Olivier hat gemeinsam mit seiner früheren Partnerin die Unverpackt-Läden Chez Mamie gegründet. Wie Olivier, seines Zeichens Franzose, ohne Grosseltern Kind, Trennung und mittlerweile 12 eigene Läden stemmt und was für eine Vision er für sein Unternehmen hat, hat er uns im grossen Tadah Interview erzählt.
Olivier Richard ist Gründer von Chez Mamie. 13 Unverpackt-Läden nennt er heute sein eigen. Mit seiner Tochter Léonie (6) lebt er in Sion.
chezmamie-biovrac.ch
Tadah: Du hast mit Chez Mamie 13 Unverpackt-Läden schweizweit. Wie begann die Geschichte?
Durch ein Bewusstsein, das nach und nach in meinen Alltag kam. Wir waren immer schon nah an der Natur und sind viel gereist. Ich habe quasi meine gesamte Kindheit mit meinen Eltern in einem VW Kombi verbracht. Wir waren viel in den Bergen und am Meer. Wir hatten schon immer diesen Sinn für das, was man heute Ökologie nennt. Für uns war das ganz normal. Wir haben darauf geachtet, nichts wegzuwerfen, unseren Müll zu sammeln und wenn ich mit meinen Eltern auf die Jagd oder zum Fischen ging, haben wir darauf geachtet, nicht die kleinen Fische zu fangen...
Das kommerzielle Angebot in den Läden hat uns einfach nicht erlaubt, einen Schritt weiterzugehen, besser oder eben nachhaltiger zu sein.
Hat sich dieses Bewusstsein nach Nachhaltigkeit im Verlauf Deines Lebens verändert?
Ja. Ich komme aus Frankreich und habe auch dort gearbeitet, habe Restaurants eröffnet und viel Verantwortung getragen. In Frankreich kannte man mich, ich hatte eine sehr komfortable Situation. Als ich mit meiner Partnerin Esylne in der Schweiz kam, kannte mich niemand. Ich hatte grosse Probleme, meinen Platz zu finden. Dann kam vor sechseinhalb Jahren unsere Tochter zur Welt. Während der Schwangerschaft meiner Partnerin wurde uns vieles bewusster und wir haben überlegt: Was wollen wir unseren Kindern eigentlich hinterlassen?
Ihr wolltet die Welt für Eure Tochter zu einem besseren Ort machen?
Unserem Planeten geht es nicht gut. Er ist übersät von Abfall. Wir haben damals erkannt, dass unsere täglichen Bemühungen in diesem Feld sehr begrenzt sind. Dies auch, weil das kommerzielle Angebot in den Läden uns einfach nicht erlaubt, einen Schritt weiterzugehen, besser oder eben nachhaltiger zu sein. Das war der Zeitpunkt, an dem wir anfingen, uns wirklich Fragen zu stellen. Wir tun bereits das Beste, was wir können, und das ist nicht gut genug.
Warum?
Genau, warum? Uns wurde bewusst, dass es heute einfach unmöglich ist, Abfall zu reduzieren. Wir waren schlicht angewidert. Der zweite Auslöser war das Buch «Zero Waste Home» von Bea Johnson, welches wir geschenkt bekommen hatten. Also haben wir uns darauf eingelassen. Wir fingen zum Beispiel an, unser eigenes Waschpulver zu machen, um etwas zu tun, was wir vorher nicht getan hatten. Aber schon bald standen wir auch da wieder an. Denn es gab einfach keine Möglichkeit so einzukaufen, wie wir es gerne getan hätten.
Der Beginn Eures eigenen Ladens?
Wir fingen an, uns zu beschweren und fragten uns: Wann werden die grossen Einzelhändler einen Schritt machen, wann wird es endlich Unverpackt-Läden geben? Und da fiel es uns wie Schuppen von den Augen. Wir sind wie alle anderen auch: Wir beschweren uns, weil es nichts gibt, und gleichzeitig tun wir nichts, um etwas zu ändern. Das war die Geburtsstunde von Chez Mamie. Wir wollten zeigen, dass es möglich ist.
Schon bald nach der ersten Filiale folgte die zweite, dann die dritte und vierte. War es immer das Ziel, so gross zu werden?
Nein, ganz und gar nicht. Wir wollten uns selbstständig machen, diesen kleinen Lebensmittelladen zum Laufen bringen, daraus ein kleines Gehalt ziehen… Wir hatten anfangs keine Ambitionen, uns weiterzuentwickeln. Doch wir hatten von Anfang an riesigen Erfolg. Wir bekamen eine Menge Presse und von einem Tag auf den anderen waren wir in der ganzen Schweiz bekannt – noch bevor wir den ersten Laden eröffneten. Es war unglaublich.
Wir alle wollen Dinge tun und haben Angst, sie zu tun.
Das Geheimrezept?
Wir alle wollen Dinge tun und haben Angst, sie zu tun. Das war auch bei uns nicht anders. Wir haben uns viele Fragen gestellt und es war eine grosse Aufgabe, dieses Projekt auf die Beine zu stellen. Aber wir wollten und mussten einfach daran glauben und es versuchen.
Wie lief die Eröffnung?
Es war der absolute Wahnsinn. Hunderte von Menschen standen vor der Tür. Innerhalb weniger Tage hatten wir eine riesige Fangemeinde in den sozialen Medien. Und wir merkten, dass etwas passierte und dass wir nicht allein waren. Mehr noch: Es ist nicht so, dass wir nicht allein waren, es war so, dass wir wirklich viele waren, die auf diese Art von Laden gewartet haben.
Es war also von Tag 1 an ein voller Erfolg?
In den ersten zwei Wochen nach der Eröffnung wurden wir mit E-Mails und Nachrichten auf allen Kanälen überschwemmt. Eines Tages hatte ich 175 E-Mails. 175 Menschen, die sich bei uns bedankten. Und etwa die Hälfte davon sagte: Wir wollen das Gleiche tun. Könnt Ihr uns helfen? Da wurde mir bewusst, dass hier grosses Potenzial schlummert. Wir hatten also zwei Möglichkeiten. Entweder wir reagieren nicht und machen mit unserem kleinen Lebensmittelladen weiter – was auch in Ordnung ist. Oder wir sehen dies als Chance. Es war meine unternehmerische Ader, die mich übermannte, und ich sagte mir: Wir müssen langfristig denken und die Chance ergreifen, die Chez Mamie Läden zu entwickeln.
Hattet Ihr bereits eine Vision?
Wenn wir alleine bleiben, haben wir keine Relevanz. Und ich wusste schon, dass die Grossen eines Tages das werden tun wollen, was wir tun. Die Überlegung war also, ein solides Netzwerk zu schaffen, um eine Stimme zu haben, die man hört und die Gewicht hat.
Was ist also die grosse Vision von Chez Mamie?
Sie bildet sich gerade. Und das ist das, was mich momentan extrem antreibt. Wenn es nur ein kleiner Laden geblieben wäre, hätte ich wohl verkauft. Nicht, weil ich es nicht mag, sondern weil es mich langweilen würde. Ich möchte nicht nur etwas Sinnvolles tun, sondern auch Dinge erschaffen. Mein Traum war es, dieses Netzwerk zu schaffen. Und eine Vision zu haben für die Zukunft. Diese war immer die gleiche: Dieses Netzwerk zu konsolidieren, eine Art Familie der Zero-Waste-Gemeinschaft zu schaffen und interne Produktionswerkstätten einrichten zu können. Dies, um die Produktion so weit wie möglich zu lokalisieren und um sehr genau auf die Bedürfnisse unserer Kunden eingehen zu können, ohne den Umweg über Zwischenhändler zu gehen. Wir möchten die Liefer- und Produktionsketten so weit wie möglich verkürzen und in der Schweiz produzieren. Wir haben die Kapazität, dies zu tun, wir haben das Volumen und die Fähigkeiten und wir haben die Distribution. Ausserdem geht es mir auch darum, Soziales in unseren Werkstätten zu integrieren. Das heisst, in Zusammenarbeit mit Stadt und Kanton, Menschen in Schwierigkeiten zu ermöglichen, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen.
Haben die Grossen Euch bemerkt?
Ja. Sie wollten uns alle kaufen. Als wir mit ihnen sprachen – nicht, weil wir verkaufen wollten, sondern weil wir uns für ihren Betrieb und ihre Vision interessierten – verstanden wir schnell, dass ihr Ziel ausschließlich finanzieller Natur ist. Sie wollen die Rentabilität und die Aktionäre zufriedenstellen. Ethik, Ökologie und Wohlwollen werden in ihrem Geschäftsmodell zu keiner Zeit berücksichtigt. Also ist alles, was von der grossen Distribution gemacht wird, Greenwashing.
Was wir tun, ist, Informationen bereitzustellen: Wer ist der Lieferant? Wie baut er an? Wie arbeitet er?
Es werden also grosse Budgets in das Marketing investiert.
Ganz genau. Der grosse Unterschied zwischen uns und ihnen ist, dass die Supermärkte ein riesiges Budget für Werbung zur Verfügung haben. Das Ziel dieser Werbung ist es, den Kunden davon zu überzeugen, dass das Produkt, das er kauft, gar nicht so schlecht ist. Wir hingegen machen kein Marketing. Was wir tun, ist, Informationen bereitzustellen: Wer ist der Lieferant? Wie baut er an? Wie arbeitet er? Die Investition zur Entwicklung unseres Unternehmens besteht nicht darin, Geld für Werbung auszugeben, sondern für die gute Gesundheit des Unternehmens. Wir haben nicht die absolute Profitabilität zum Ziel. Wir haben eine sehr, sehr langfristige Vision. Die Tatsache, dass wir jetzt weniger verdienen, sichert unsere Nachhaltigkeit.
Du bist ursprünglich aus Frankreich. Warum hast Du in der Schweiz gegründet? Was hat Dich hierhin geführt?
Wir kommen aus Südfrankreich. Ich habe immer gesurft und gekitet. Mit Eslyne beschlossen wir, nach Brasilien zu gehen, um dort eine Kite-Schule zu eröffnen. Wir gingen und waren kurz davor, ein Haus am Strand zu kaufen und loszulegen. Schlussendlich hatten wir Angst und haben es nicht getan. Wir kamen zurück nach Frankreich und wussten nicht, wie weiter. Ein Freund sagte uns: Geht in die Schweiz, da ist es wunderschön! Wir kamen in Genf an und dachten: Nein, das ist es nicht. In Lausanne fanden wir es cool, aber es war noch zu viel Stadt. Über Martigny kamen wir ins Wallis und haben uns sofort verliebt. Wir sind nicht wegen der Bedingungen gekommen, wir kannten sie nicht einmal.
Was ist hier anders als in Frankreich?
Heute fühle ich mich mehr als Walliser als als Franzose. Ich fühle mich glücklich, dass ich mich hier in der Schweiz niederlassen konnte. Ich verdanke meinem besten Freund, der uns sehr geholfen hat, dass ich heute ein sehr grosses Netzwerk habe. Denn wenn man im Wallis niemanden kennt, kommt man nicht weit. Das einzige, was ich schade finde hier ist, dass in der Schweiz alles organisiert ist. Es fehlt die Spontaneität. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich Termine zum Essen mit jemandem einen Monat im Voraus buchen muss. In Marseille ist das ganz anders.
Mit Chez Mamie habt Ihr den Röstigraben überquert. Ist Zürich wirklich so anders als die französischsprachige Schweiz?
Ja, in zweierlei Hinsicht. Erstens im kommerziellen Sinne. Zürich ist unantastbar. Wenn Du keine sehr hohen Margen hast, ist es mehr als schwierig. Die Mieten sind verrückt und es ist wirklich schwer, Fuss zu fassen. Zweitens, die Mentalität. Hier im Wallis sind wir sehr menschlich. Es wird nicht viel Aufhebens gemacht, es ist alles sehr echt und authentisch. In Zürich habe ich manchmal den Eindruck, dass die Menschen sehr viel tun, um ihre Persönlichkeit zu befriedigen.
Du hast Deine Firma mit Deiner Ex gegründet. Ist es schwierig, gemeinsam ein Unternehmen zu führen und gleichzeitig ein kleines Kind zu haben?
Es ist kompliziert, ja. Wir haben hier keine Familie, die sich um Leonie kümmert. Aber gleichzeitig war für uns auch klar, dass wir uns selbst um unsere Tochter kümmern würden. Wir haben uns abgewechselt. Unser erstes Geschäft haben wir selbst gebaut. Wir hatten kein Geld. Manchmal habe ich auf der Baustelle geschlafen – wir haben wirklich hart gearbeitet.
War da noch Zeit für Euch als Paar und Familie?
Nein, kaum. Ausserdem haben wir zur gleichen Zeit auch noch unser Chalet renoviert. Was bedeutet, dass ich von Chez Mamie zurückkam, um am Haus zu arbeiten. Von unserer Tochter habe ich nicht viel mitbekommen.
Bereust Du etwas?
Nein. Ich habe getan, was ich konnte. Ich hatte immer Ziele. Ich habe das getan, was ich wirklich tun wollte: etwas aufbauen, Freiheit gewinnen. Und das ist es wert.
Du und Esylne habt Euch getrennt. Wegen dieses Stresses?
Das ist nicht unbedingt der Grund. Es gab eine Menge Gründe – wie bei jedem Paar, das sich trennt.
Wie organisiert Ihr Euch mit Léonie?
Sie ist jeweils eine Woche bei Esylne, eine Woche bei mir. Für mich war es unvorstellbar, sie weniger zu haben, weniger Zeit mit meinem Kind zu verbringen. Wenn sie also bei mir ist, arbeite ich nicht. Natürlich kann es sein, dass ich eine E-Mail schreibe oder einen Anruf mache, aber meistens bin ich bei ihr.
Hast Du Dich verändert, seit Du Vater bist?
Ich bin weniger impulsiv, habe mich sozusagen für sie beruhigt. Auch im Sport bin ich viel ruhiger geworden. Ich bin früher zum Beispiel Motocross gefahren. Das habe ich für Léonie komplett eingestellt.
Ein umweltbewusstes Leben ist in aller Munde. Wie lautet Deine Definition von «ökologisch verantwortungsvoll»?
Meine Definition ist wohl weniger krass, als man sie erwarten könnte. Wir versuchen, die Philosophie zu demokratisieren. Wir haben mit sehr strengen Werten angefangen und zu Hause täglich Zero Waste gelebt. Esylne war noch engagierter als ich.
Es geht nicht um alles oder nichts. Und wir dürfen nicht über andere urteilen.
Wenn Du sagst «haben», bedeutet das, dass Du nicht mehr so lebst?
Ich bin weniger extrem. Zero Waste ist nicht unbedingt immer nötig und möglich. Und es ist zu einnehmend für die Leute. Krasse Visionen und Definitionen machen Angst und es führt dazu, dass die Leute sagen: Ich kann es nicht, also mache ich es nicht - ich fange gar nicht erst an. Es ist die Balance, die zählt. Man muss sich gut fühlen. Und mit diesen Widersprüchen muss man leben können. Es geht nicht um alles oder nichts. Und wir dürfen nicht über andere urteilen.
Mit anderen Worten: Zu viel ist auch nicht gut?
Ich denke, Veganismus ist ein gutes Beispiel. Auf diese aufdringliche Art und Weise wird es nie funktionieren. Es ist zu aggressiv. Zero Waste war anfangs auch ein wenig so. Aber es ist so wichtig, authentisch zu sein.
Was ist also das Ziel?
Für uns geht es darum, die Leute in die Läden zu bringen, um einen Anstoss zu geben, der sie beginnen lässt. Das kann man wirklich mit einfachen Dingen erreichen.
Zum Beispiel?
Stellt Euer eigenes Waschmittel her. Es ist so einfach, dass viele es dann einfach ausprobieren. Und dann ist da noch der finanzielle Aspekt. Es ist viel billiger. So lässt man sich auf das Spiel ein und merkt: Das macht Spass und es ist cool.
Ist es als Familie mit Kindern schwierig, sorgsam mit Abfall umzugehen?
Nein. Aber es ist klar, dass es mit Entbehrungen verbunden ist. Und die Frage ist: Ist es für uns okay oder erzeugt es Frust? Mit Léonie haben wir immer versucht, nicht zu verbieten, sondern zu hinterfragen. Wenn sie etwas haben möchte, fragen wir sie: Brauchst du das wirklich? Ist es das wert?
Funktioniert es?
Ja. Kinder sind schon sehr früh verantwortungsbewusst. Sie war noch nicht einmal drei Jahre alt, als sie in der Natur Müll aufsammelte. Ausserdem müssen wir für sie Alternativen finden. Und Aktivitäten im Freien sind wichtig.
Können wir die grosse Katastrophe noch verhindern?
Nein. Wir fahren den Planeten an die Wand. Und das noch viel schneller als wir denken. Es ist unsere eigene Schuld, denn die Menschheit will nichts ändern. Eigentlich ist es gar noch schlimmer.
Warum?
Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Selbstzerstörung. Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass wir nicht so intelligent sind, wie wir immer denken. Wir glauben, dass wir absolute Macht haben.
Wenn alles schon vorbei ist, wieso sich überhaupt Mühe geben?
Ich tue es für mich und für meine Tochter. Wir werden unser Möglichstes getan haben. Aber nur weil wir es tun, heisst das nicht, dass wir ein Brett vor dem Kopf haben müssen. Wir sind zu weit gegangen. Dem Planeten geht die Luft aus. Wir brauchen einen Crash. Wir haben uns schon viel zu lange von der Natur abgekoppelt. Aber solange wir nicht direkt betroffen sind, ändern wir nichts.