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Muriel Urech Tsamis: Zwischen Vereinbarkeit und Trauerbewältigung.

Muriel Urech Tsamis und ihr Mann Dimitris sind seit 17 Jahren ein Paar und haben vier gemeinsame Kinder. Im November 2019 stirbt Dimitris völlig unerwartet an einem Hirnaneurysma. Von einem Tag auf den anderen steht Muriel alleine da. Im grossen Tadah Interview erzählt sie uns nicht nur, wie sie die letzten Monate gemeistert hat, sondern auch, wieso es ihr verstorbener Partner ist, der ihr den Mut und die Kraft gibt, weiterzumachen.
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Muriel Urech Tsamis ist Lead Global Content & Digital bei Cafè Royal International und betreibt ihren eigenen Blog. Gemeinsam mit ihren vier Kindern (5, 9, 13 und 18) wohnt sie in Zug.

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TadahWir sind mit einem oder zwei Kindern oft schon überfordert und finden den Spagat schwierig. Du hast vier Kinder. Wie machst Du das?
Klar, es ist viel und es bedarf viel Organisation, aber es ist auch sehr schön. Vereinbarkeit ist ein allgegenwärtiges Thema. Auch eines, welches meine Berufswahl stark beeinflusst hat. Sprich: Es gab Berufe, die kamen einfach nicht in Frage. Ich wäre zum Beispiel gerne Pilotin geworden. Aber ich war überzeugt, dass das unmöglich sein würde, wenn ich eine Familie haben möchte. Dann wollte ich Zahnärztin werden. Ich hatte mich bereits an der Uni eingeschrieben und dann wieder einen Rückzieher gemacht, weil ich meinen Kinderwunsch hätte verschieben müssen – das Studium geht ja doch relativ lange.

 

Ich war 23, in Ausbildung, ohne finanzielles Polster. Die Reaktionen waren: Treib ab.

 

Du wurdest dann während Deines Tourismus-Studiums ungeplant schwanger. Erzähl!
Mir wurde ein gynäkologisches Problem diagnostiziert, welches eine Schwangerschaft eigentlich ausschloss. Das war für mich eine absolute Schockdiagnose. Während meines Studiums zur Tourimusfachfrau an der Hochschule Luzern wurde ich dann trotzdem schwanger. Es war das grösste Geschenk überhaupt.

Wie ging es weiter?
Ich war 23, in Ausbildung, ohne finanzielles Polster. Die Reaktionen waren: Treib ab. Aber das wäre für mich nie in Frage gekommen. Also haben wir uns darauf eingelassen.

Ihr, das warst Du und Dein Mann. Gemeinsam seid Ihr wenig später nach Griechenland ausgewandert und habt Euer zweites Kind bekommen. Das tönt nach einem grossen Abenteuer.
Das war es. Wir haben in Griechenland, dem Geburtsland meines Mannes, ein Reisebüro geführt. Und ich bin wieder Mutter geworden. Selbstständig in einem fremden Land – es gibt viele Anekdoten aus dieser Zeit. Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch in Griechenland nicht nur immer einfach.

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Genau wie in der Schweiz nicht. Auch da kannst Du ein Liedchen davon singen, oder?
Als ich mit Nummer 3 schwanger war, sind wir zurück in die Schweiz gekommen. Erst haben wir ein Restaurant geführt, dann ein Hotel. Das Baby habe ich oft zwischen Kühlschrank und Tiefkühler in der Küche gestillt, eine Zeit lang hatten wir eine Nanny aus Griechenland bei uns… Dann wurde ich zum vierten Mal schwanger. Und mein Mann beschloss, seine Vaterrolle neu zu überdenken.

Das heisst?
Er sagte mir, dass er seine Karriere gemacht habe und sich nun mehr um die Kinder kümmern könne. Auch damit ich meinen eben erst begonnenen Masterstudiengang zu Ende machen könne. Er hat wirklich Schritt für Schritt oder besser Kind für Kind mehr übernommen. Beim ersten Kind hat er nichts gemacht, beim zweiten hat er mich unterstützt, beim dritten hat er angefangen mit anzupacken und beim vierten hat er quasi übernommen.

Das tönt famos. Gab es nie Meinungsverschiedenheiten?
Doch, klar. Der Haushalt war beispielsweise nicht immer so gemacht, wie ich ihn machen würde. Aber ganz ehrlich: Ist das denn so schlimm? Er hat es eben auf seine Art gemacht. Das verlangt nach einer gewissen Toleranz. Das ist auch bei der Erziehung so.

Wie meinst Du das?
Man kann seine Kinder nur abgeben, wenn man Vertrauen hat. Und wenn man akzeptiert, dass eine andere Person das zwar anders macht, aber dafür nicht weniger gut.

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Wird man vier Kindern immer gerecht?
Nein, aber wird man einem immer gerecht? Man muss viel organisieren und sich oft aufteilen. Klar habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Aber meine Kinder haben dadurch, dass sie viele Geschwister haben, eben auch Dinge, die andere nicht haben. Zum Beispiel starken sozialen Kontakt, einen Familienzusammenhalt…

 

Dimitris wäre für immer im Wachkoma geblieben. Sein Körper lebte, aber nicht sein Geist. Wir mussten also entscheiden, ob man ihn weiterhin künstlich ernähren sollte oder nicht.

 

Zu zweit vier Kinder grossziehen ist eine Sache. Aber Du hast im November 2019 einen schlimmen Schicksalsschlag erlebt: Dein Mann ist gestorben.
Dimitris hat ein Hirnaneurysma erlitten. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Wir haben zusammen gefrühstückt und ich bin um 08:15 Uhr aus dem Haus gegangen, um an einem Seminar zum Thema Women Empowerment teilzunehmen. Er hat sich noch lustig darüber gemacht und mich aufgezogen, dass ich jetzt zu einer Feministin werde. Er hat sich den ganzen Tag nicht gemeldet, das war unüblich, aber ich dachte, er mache es extra.

Dann die Hiobsbotschaft. Wie hast Du das erlebt?
Es war eine Katastrophe. Als ich am Nachmittag nach Hause kam, stand ein Mitarbeiter meines Mannes bei uns an der Haustür und sprach mit meiner Tochter. Er erzählte uns, dass Dimitris quasi in seinen Armen zusammengebrochen und mit der Rega ins Spital nach Zürich geflogen worden sei. Eine Nachbarin hat die Kinder übernommen und ich raste dorthin.

Was geschah dann?
Anfangs habe ich einfach nur funktioniert. Ich wusste ja nicht, was geschehen war, wusste nicht, wie es ihm geht. Dimitris war zwei Wochen im Koma – die Hoffnung ging rauf unter runter. Nach diesen zwei Wochen haben die Ärzte eine Hirnstrommessung gemacht. Und da war einfach nur diese gerade Linie…

 

Ich habe gespürt, dass er gekämpft hat. Und dass er verloren hat.

 

Und Du musstest dann eine Entscheidung fällen…
Dimitris wäre für immer im Wachkoma geblieben. Sein Körper lebte, aber nicht sein Geist. Ich musste also entscheiden, ob man ihn weiterhin künstlich ernähren sollte oder nicht. Ich habe den Arzt gefragt: Muss ich das jetzt ganz alleine entscheiden? Dieser gab zur Antwort: Nein, eigentlich ist es die Entscheidung ihres Mannes. Würde er so leben wollen?

Du wusstest darauf eine Antwort?
Ja. Dimitris' Mutter war 12 Jahre bettlägerig. Und er hat immer gesagt: Das ist nicht leben, das ist vegetieren. Für mich war es zudem nicht natürlich. Denn leben heisst ja auch, sich selbst zu ernähren. Auch habe ich mich gefragt: Wie ist es mit solch einem Papi aufzuwachsen? Was macht das mit den Kindern?

Hattest Du je ein schlechtes Gewissen?
Nein. Ich habe gespürt, dass er gekämpft und dass er verloren hat. Er hätte es so gewollt.

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Wie haben die Kinder diese Zeit erlebt?
Die beiden mittleren waren bei einer Freundin untergebracht, die kleinste bei meinen Eltern. Die Kleinste hat mit Panikattacken reagiert, sobald jemand zur Tür rausging. Sie hatte Angst, dass man nicht mehr zurückkommt – wie das bei ihrem Papi geschehen war. Die Drittgeborene ist, und war schon immer, sehr reif. Sie konnte den Tod relativ gut verarbeiten. Die Zweite hat mir einige Male gesagt, sie wolle sich umbringen. Das war für mich der Horror. Ich habe fünf Monate mit ihr im Bett geschlafen.

Stirbt eine Person, kommt neben dem ganzen emotionalen Schock auch ein riesiger Berg Administratives auf einen zu. Wie hast Du das erlebt?
Dimitris war selbstständig und es gab ein laufendes Business. Das musste ich übernehmen. Hinzu kamen die ganzen Behördengänge, die Abdankung… Es war erschlagend. Ich bin zudem eine Perfektionistin und sehr ambitioniert aber ich konnte unmöglich allem gerecht werden. Plötzlich war da eine Betreibung oder ich vergass einen Schultermin der Kinder - Dinge, die mir noch nie passiert waren.

Hattest Du Hilfe?
Ja. Mein Umfeld war grossartig und hat versucht zu helfen, wo auch immer es ging. Aber ganz ehrlich: Ich habe noch immer nicht alles erledigt. Es braucht Zeit – auch emotional. Und man muss extrem ehrlich sein. Zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen und ab und zu sagen, dass es halt nicht geht. Das ist das, was ich am meisten gelernt habe.

Was genau?
Mich zu fokussieren. Auf diejenigen Dinge und Menschen, die mir wichtig sind.

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Über Deinen Verlust hast Du von Anfang an auf Deinem Blog offen kommuniziert. Wie waren die Reaktionen?
Online bin ich von bösen Kommentaren ziemlich verschont geblieben. Offline nicht. Es gab Nachbarn, die haben die Strassenseite gewechselt. Auch ein Teil meiner Familie hat überhaupt nicht verstanden, wieso ich das so mache. Und es gibt Leute, die finden es schlicht das Allerletzte, dass ich dieses Tabuthema Tod und meine trauernden Kindern nach aussen trage.

Wieso hast Du es gemacht?
Ich musste diese Entscheidung schnell fällen. Was mache ich jetzt? Wie gehe ich damit um? Ich habe sogar mit dem Arzt darüber gesprochen. Ein Teil dieses Entscheids war klar auch ein finanzieller. Ich bin jetzt alleinstehend. Ich habe also strategisch und schrittweise entschieden.

 

Ich bin wirklich auf mich allein gestellt und deswegen auch so froh und dankbar, dass ich nie aufgehört habe zu arbeiten. Ich wäre heute ein Sozialfall.

 

Ein wichtiger Punkt. Und einer, an den ja viele nicht denken. Habt Ihr Euch finanziell abgesichert oder Euch um die Vorsorge gekümmert?
Leider nicht. Dimitris hatte einmal eine Lebensversicherung abgeschlossen, die Raten aber nie bezahlt. Zudem waren wir ja noch nicht lange in der Schweiz, sprich die «normale» soziale Absicherung ist auch nicht vorhanden durch AHV und Pensionskassengelder. Ich bin wirklich auf mich allein gestellt und deswegen auch so froh und dankbar, dass ich nie aufgehört habe zu arbeiten. Ich wäre heute ein Sozialfall.

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Kann man sich darauf denn vorbereiten?
Klar könnte man. Es hätte geholfen, wenn wir eine Todesfallversicherung gehabt hätten. Es ist aber sicherlich auch eine Frage der finanziellen Lage einer Familie. Wir haben uns entschieden, dass unsere Investitionen in die Kinderbetreuung fliessen. Weil, wenn ich weiter arbeiten kann, verdiene ich auf die Länge auch mehr und kann so wiederum mehr zum Familienbudget beisteuern. Dafür bin ich jetzt dankbar. Aber eben, wer rechnet schon damit, dass der Partner stirbt? Das sind Dinge, die passieren doch immer nur den anderen.

Sicherst Du Dich denn heute besser ab?
Ja. Ich würde wirklich jeder Familie empfehlen, sich Gedanken über diese Situation zu machen. Auch wenn dies natürlich unangenehm ist. Aber wenn der Fall eintrifft, ist man froh. Zudem mache ich mir heute viel mehr Gedanken über meine berufliche Vorsorge. Da sind viele Frauen schlicht ganz schlecht informiert.

 

Viele Frauen stellen sich selbst ein Bein. Sie bestehen nicht auf den gleichen Lohn wie Männer, machen sich abhängig von ihren Partnern…

 

Wie meinst Du das?
Viele Frauen stellen sich selbst ein Bein. Sie bestehen nicht auf den gleichen Lohn wie Männer, machen sich abhängig von ihren Partnern… Wir haben als Paar zwar immer alles in einen Topf geworfen, hatte keine getrennten Konten, aber auch immer gemeinsam über Investitionen entschieden. Das hat gut funktioniert, aber war sicherlich nicht ganz durchdacht. Wir hatten keine Sicherheiten.

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Kurz nach dem Verlust Deines Mannes kam auch noch Corona – ein Lockdown, wenn man eh schon alleine ist… wie erging es Dir?
Corona war und ist schwierig. Wir hatten immer viele Gäste, hatten ein grosses Netzwerk. Mit Corona ist alles zusammengebrochen. Wir waren im ersten Lockdown sehr isoliert. Das war nicht schön. Und vor allem nicht einfach.

Wie kann man jemandem helfen, der seinen Partner verloren hat.
Ich finde, man muss Mitgefühl zeigen. Und wenn man helfen will, am besten fragen, wo man unterstützen kann. Denn es bringt nichts, jemandem Hilfe aufzudrücken, der diese nicht will. Das gilt auch für kleine Gefallen. Wenn zum Beispiel jemand für mich einkaufen ging – ungefragt –, dann hatte ich nachher ganz viele Produkte, die ich nicht haben wollte, weil wir sie nicht essen. Das ist dann zwar sehr nett gemeint, aber kontraproduktiv. Dafür haben wir so viele kleine Aufmerksamkeiten erleben können: Liebe Menschen kochten für uns eine Mahlzeit oder brachten Blumen vorbei. Einfach wunderschön.

 

Am schlimmsten sind aber diejenigen, die sich einfach abwenden, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen.

 

Was sind denn die richtigen Worte?
Das ausdrücken, was man im Moment fühlt. Sagen, dass man traurig ist. Das finde ich am ehrlichsten. Und fragen, wie sich das Gegenüber fühlt. Ob es reden mag. Sätze wie: Das kommt schon wieder, waren für mich sehr schwierig. Oder auch Menschen, die ungefragt über ihre eigenen Erlebnisse berichten und sich selbst ins Zentrum stellen und Dinge sagen wie: Jesses Gott, wenn mir das passieren würde. Das tut weh. Am schlimmsten sind aber diejenigen, die sich einfach abwenden, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen.

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Wie geht es Dir heute?
Gut. Ich werde Dimitris nie vergessen. Wir waren die beiden Menschen, die zusammengehören. Er war der Teil, der mich komplett machte. Und er ist auch der Grund, warum ich weiss, dass mein Leben nicht vorbei ist.

 

Ich will nicht die gebrochene, trauernde Witwe sein. Das Leben geht weiter.

 

Wie meinst Du das?
Als ich Dimitris kennenlernte, war er beinahe so alt, wie ich war, als er gestorben ist. Das gibt mir Mut. Er hat mich kurz vor 40 kennengelernt, sein Leben hat dann eine neue Wendung genommen.

Kannst Du Dir vorstellen jemand Neuen kennenzulernen?
Ja, das kann ich. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne jemanden zu sein. Und ich glaube auch, dass es möglich ist, zwei Mal den perfekten Menschen zu finden. Ich bin überzeugt, dass man mehrere Lieben haben kann in einem Leben. Denn je mehr man liebt, umso grösser wird das Herz. Emotional positive Gefühle ist das, was mich im Leben antreibt. Ich will nicht die gebrochene, trauernde Witwe sein. Das Leben geht weiter.

Ist das ein Spagat?
Ist es. Denn ich will weder meinen Kindern den Vater ersetzen, noch will ich einen Ersatz für meinen verstorbenen Mann. Ich weiss auch, dass ich sehr schnell und ehrgeizig bin – eben auch in Sachen Trauerbewältigung. Und ich so viele Leuten vor den Kopf stosse oder sie überfordere. Aber ich probiere es so zu machen, wie es für mich stimmt. Und über diese Themen in meiner Art zu reden. Auch, um vielleicht dem einen oder anderen Mut zu machen.

 

Betreuungssituation:
Muriel arbeitet 100%. Ihr Sohn ist in der Lehre, die beiden mittleren Töchter besuchen die Tagesschule und die Kleinste ist fünf Tage die Woche in der KiTa. Als Dimitris noch am Leben war, haben sich Muriel und er die Kinderbetreuung aufgeteilt.


Bilder von Dominic Wenger