Es ist Weihnachten 2006 als Kerstin Birkeland die schlimmste Nachricht bekommt, die man sich nur vorstellen kann: Ihr Kind hat Krebs. Vier Jahre lang kämpft Till. Und verliert. Doch Resignation ist nicht Kerstins Art. Sie gründet herzensbilder.ch und hilft anderen Betroffenen, Momente festzuhalten, die leider vergänglich sind.
Kerstin Birkeland ist Präsidentin und Gründerin von herzensbilder.ch. Der Verein schenkt Familien von schwerkranken Kindern oder Elternteilen ein kostenloses Foto-Shooting. Kerstin wohnt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern Malin (16) und Neele (5) in Dielsdorf. Über ihnen, bei den Sternen, wohnt ihr Sohn Till († 2010). herzensbilder.ch
Tadah: Weihnachten steht kurz bevor. Das Fest der Liebe und der Freude, das Fest der Familie. Für Euch das Fest, an dem alles begann, was so schlimm endete.
Wir hatten uns so auf diese Festtage gefreut. Denn als Familie waren wir nach fünf schlimmen Jahren erst gerade zur Ruhe gekommen, nachdem sich unsere Tochter Malin von einer schlimmen Erkrankung wieder vollständig erholt hatte. Bis sich eines Morgens unser Sohn Till übergeben musste. Wir dachten uns erst nichts dabei, denn rundherum waren alle krank. Doch es wiederholte sich. Er war nicht krank, da war nur dieses eine Erbrechen unmittelbar nach dem Erwachen.
Waren da sonstige Anzeichen, die Grund zur Sorge gegeben hätten?
Nein, er war bester Dinge. Am 25. Dezember haben wir gemeinsam den Baum geschmückt und Till ist rundherum getanzt. Ein ganz normaler, gesunder 6-Jähriger.
Dann ging die Türe noch einmal auf, eine Ärztin kam rein und sagte: «Wo soll ich es ihnen sagen?»
Leider nicht.
Nein, leider nicht. Ich habe am Weihnachtsmorgen dann die Symptome gegoogelt und als eines der ersten Ergebnisse kam: Hirntumor. Wir haben versucht, das zu verdrängen und normal Weihnachten zu feiern. Am 26. wieder das Erbrechen. Wir sind zum Arzt, in der Hoffnung, es sei nur ein harmloser Virus. Wir wurden sofort ins Kinderspital geschickt. Ich kann mich so gut erinnern: Till war im CT, es kam ein Arzt zu uns und fragte uns, wieso wir denn gekommen seien. Ich habe daraufhin meiner Mutter eine SMS geschrieben: «Bestell Pizza, wir kommen nach Hause.» Dann ging die Türe noch einmal auf, eine Ärztin kam rein und sagte: «Wo soll ich es Ihnen sagen, hier drinnen oder draussen vor der Tür?»
Das muss ein unfassbarer Schock gewesen sein.
Wir sind quasi doppelt hoch gefallen. Denn wir waren überzeugt, wenn dieser erste Arzt uns so fragt, dann kann es nichts Schlimmes sein. Als sie dann sagte: «Wir haben etwas entdeckt auf den Bildern.», da blieb die Welt stehen. Krebs.
Wie ging es weiter?
Es war kein bodenloser Fall. Denn uns wurde gesagt, dass in 50% der Fälle ein Tumor an diesem Ort gutartig sei.
Der Fall kam aber.
In Einzelteilen. Bösartig, das Bösartigste, was es überhaupt gibt, alles voller Metastasen. Aber auf dem Notfall, da hatten wir erstmal einfach die Bestätigung, da ist etwas, was da nicht hingehört.
Wie habt Ihr reagiert?
Wir haben weder angefangen zu weinen noch zu schreien. Dafür bin ich unendlich dankbar. Wir sind zu Till und haben ihm gesagt: «Wir müssen hier bleiben. Wir organisieren jemanden, der uns dein Pyjama bringt.» Ich bin sehr froh, haben wir das so geschafft. Denn alles andere wäre für ihn der Horror gewesen.
Der Horror – ein anderes Wort gibt es dafür kaum.
Es ist eine Nachricht, die du nie hören willst. Dieses Kind tanzte noch um den Baum. Du denkst dir nur: Das kann nicht sein. Ein einziges CT-Bild zerstört alles.
Ihr habt vier Jahre lang mit und um Till gekämpft. War da auch Hoffnung?
Ich bin ein sehr realistischer Mensch. Ich kann besser leben, wenn ich mich nicht an unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeiten hänge. Nach der Erstdiagnose hat man uns gesagt, er hätte 40% Überlebenschance. Ich ticke dann so, dass ich mir denke: Es ist mein allergrösster Wunsch, dass er zu diesen 40% gehört. Und trotz aller Hoffnung auf einen anderen Ausgang, ist es ab heute Realität, dass die Wahrscheinlichkeit grösser ist, dass wir unser Kind verlieren, als dass wir es behalten.
Wie hat Till reagiert?
Er war sechs Jahre alt. Wir haben immer versucht, ihn nicht zu überfordern. Ihm das zu geben, was er braucht. Damals als erste Info zum Beispiel: Da ist etwas in Deinem Kopf, was da nicht hingehört. Ich bin mit ihm hingesessen, habe einen Block genommen und ihm das aufgezeichnet. Wir haben ihm auch aufgezeigt, dass es verschiedene Krankheiten gibt. Solche, die harmlos sind, wie ein Schnupfen und dann eben andere, die schlimm sind. Krankheiten, an denen man auch sterben kann. Ohne ihm zu sagen: Du stirbst.
Es ist wie schwimmen. Mit dem Kopf immer knapp über dem Wasser und den Wellen rund um dich rum.
Woher weiss man, wie man seinem Kind erklärt, dass es Krebs hat?
Weiss man nicht. Aber es kam ganz von alleine. Die ganze Krebstherapie ist so komplex, wir hätten ihm das nie gesamthaft erklären können. Hätten wir ihm von Anfang an gesagt, dass er seine Haare verliert, dass er Schmerzen haben wird – wir hätten ihn kaputt gemacht. Wir wollten ihm das Grundgefühl geben: Es gibt keine Frage, die du nicht stellen darfst. Und wir geben auf alle Fragen eine Antwort. Aber wir geben dir proaktiv nur das, was du jetzt gerade verstehen musst.
Bauchgefühl also?
Vier Jahre lang Bauchgefühl, ja. Das ist auch das, was ich jedem rate. Hört auf Euch. Und geht durch diesen Hurrikan so, wie es für Euch als Familie stimmt. Es gibt keine Richtlinien. Es ist wie schwimmen. Mit dem Kopf immer knapp über dem Wasser und den Wellen rund um dich rum.
Wie ging seine Schwester damit um?
Malin wollte bis zum Schluss immer alles wissen. Sie war bei der Diagnose vier Jahre alt. Und an diesem Tag hat sie gesagt: «Ich bleibe in diesem Spital». Wir waren immer zusammen. Einer von uns beiden Grossen schlief bei Till im Zimmer, der andere mit Malin im Elternzimmer – ganz in der Nähe des Spitals. Eine Nacht war ich bei Till, die nächste bei Malin und dann wieder bei Till. Malin war morgens im Pyjama mit dem Schoppen bei Till im Spitalbett, hat sich erst da angezogen und abends ist sie in diesem Bett eingeschlafen und wir haben sie mit dem Buggy rüber ins Elternzimmer gefahren. Für sie ging es nur so. So und nicht anders.
Ihr habt also auf Euer vierjähriges Kind gehört?
Ja, es war so kostbar, dass sie sagen konnte, was sie braucht. Sie wusste es so klar und hatte so viel Bauchgefühl. Das mussten und wollten wir ernst nehmen. Da gab es für uns kein Verhandeln.
Als sie gewusst hat, dass Till stirbt, hat sie gesagt: «Ich gehe nicht mehr in die Schule!»
Sie war immer an seiner Seite?
Immer. Bis zum Schluss. Als sie gewusst hat, dass Till stirbt, hat sie gesagt: «Ich gehe nicht mehr in die Schule!» Wir wussten nicht, wie viel Zeit das sein wird. Aber wir haben die Schule angerufen und das so verhandelt. Wir wussten, wenn wir jetzt nicht auf unsere Tochter hören, dann kommt es nicht gut. Dann kommt irgendwann die Retourkutsche.
Wie viel Zeit habt Ihr insgesamt im Spital verbracht?
Sehr viel. Wir sind vom Notfall direkt auf die Onkologie. Und sofort stand unser Leben Kopf. Wir sind die ersten vier Monate mit Till nie mehr zuhause gewesen. Danach durften wir ab und zu einige Tage nach Hause. Aber durch die Therapie hatte er kein Abwehrsystem. Und beim kleinsten Fieber – auch wenn es nur 38,5 ist – waren wir wieder im Spital.
Gab es während der ganzen Zeit auch Momente, in denen ihr durchatmen konntet?
Die erste Therapie ging ein Jahr. Es war oft so, dass wir mit Till auf dem Heimweg waren, noch kurz einkaufen gingen, um zuhause mal wieder fein zu kochen und als wir ins Wohnzimmer traten, sagte er: «Ich fühle mich nicht gut». Dann packst du all deine Einkäufe in den Kühlschrank, nimmst die unausgepackten Taschen wieder in die Hand und gehst zurück in den Spital. Du kommst immer auf den Zehenspitzen nach Hause, denn die Wahrscheinlichkeit, dass du sehr bald wieder los musst, ist riesig.
Du kommst immer auf den Zehenspitzen nach Hause, denn die Wahrscheinlichkeit, dass du sehr bald wieder los musst, ist riesig.
Also immer auf Nadeln?
Nach Ende der ersten Therapie schien alles gut. Die Metastasen hatten sehr rasch schon auf die Chemo angesprochen, die Bilder sahen perfekt aus. Aber wir hatten ein Kind, das wegen der Therapie ein Wrack war – er konnte kaum mehr laufen, er hatte keine Kraft, man musste ihn per Sonde ernähren. Aber: Er war für den Moment krebsfrei. Wir haben ihn aufgepäppelt. Beim MRI ein knappes Jahr nach Therapieende war der Krebs wieder da.
Woher nimmt man da noch Kraft?
Du musst. Du hast keine Wahl. Es folge ein weiteres Jahr Therapie, dann – wieder elf Monate später – war der Krebs erneut zurück.
Gab es in diesen vier Jahren einen einzigen Tag, an dem es nicht um das ging?
Nein. Zudem musste mein Mann Simon ja auch noch arbeiten, um unsere Existenz zu sichern. Was die Väter in solchen Situationen leisten müssen, ist unfassbar. Jede Nacht bin ich aufgewacht und habe Gedanken gedreht. Was ist, wenn Till morgen Fieber bekommt, was mache ich mit Malin, wie organisieren wir uns? Das Ganze haben wir nur dank sehr viel Hilfe überlebt.
Du bist immer damit beschäftigt zu schauen, dass das Schiff heute nicht kippt. Auf diesem Schiff hatten wir zum Glück eine ganze Mannschaft. Eine, die du im Leben davor dir nicht hast ausmalen können, wie sie zusammengesetzt sein wird.
Freunde und Familie.
Das ist alles so existenziell. Die Grenze zu «Wir schaffen das alles nicht», ist so nah. Dein Tagesziel ist nur, dass abends alle im Bett liegen und du sagen kannst: «Der Tag war so gut, wie er nur hat sein können». Dein ganzes Hirn ist nur auf das gepolt. Du kannst nie abschalten. Nie. Du bist immer damit beschäftigt zu schauen, dass das Schiff heute nicht kippt. Auf diesem Schiff hatten wir zum Glück eine ganze Mannschaft. Menschen, die da waren, um mit uns durch diesen Tornado zu segeln mit ungewissem Ziel und Ausgang. Eine Mannschaft, die du im Leben davor dir nicht hast ausmalen können, wie sie zusammengesetzt sein wird.
Wie meinst Du das?
In dem Moment, als wir den Leuten sagen mussten, dass Till einen Hirntumor hat, sind einige Leute aus unserem Leben verschwunden. Leute, von denen du das nicht gedacht hättest. Es fängt ein schwieriger Weg an und es sind Themen, mit denen möchten sie sich nicht auseinandersetzen und mit denen möchten sie ihre Kinder nicht konfrontieren. Dann gibt es die Leute, von denen wusstest du, dass sie da sein werden. Und dann gibt es Leute, von denen hättest du es nie gedacht, dass sie da sein werden.
Für unsere Beziehung war das ein matchentscheidendes Teil. Dass wir die Last nicht auf vier Schulten hatten, sondern auf ganz viele verteilen konnten.
Ihr habt also ganz vielen Leuten Eure Tür geöffnet und sie mit teilhaben lassen?
Für uns war das Allerwichtigste, dass unsere Kinder schöne Tage haben. Und dies ging nur, wenn jemand für uns kochte, die Wäsche wusch oder einkaufen ging. Wir haben uns getraut zu sagen, was wir wollen und was uns helfen würde. Der zwanzigste Blumenstrauss auf der Onkologie – den du nicht mal mit ins Zimmer nehmen darfst – ist lieb gemeint, aber er bringt nichts. Aber wenn uns jemand um 18 Uhr etwas Leckers zu essen bringen könnte, dann wäre das super. Es gab einen Plan auf dem Internet, auf dem man sich eintragen konnte, wer uns wann was bringt.
Wir haben die Leute reagiert?
Dankbar. Denn prinzipiell ist es so, dass man in einer solchen Situation unsicher ist. Du willst ja nichts Falsches machen. Also machst du lieber nichts. Wenn man aber um ganz Konkretes bittet, dann steigen die Leute sofort ein. Für unsere Beziehung war das ein matchentscheidendes Teil. Dass wir die Last nicht auf vier Schulten hatten, sondern auf ganz viele verteilen konnten.
Von wegen Beziehung: Wie meistert man das als Paar?
Ich halte mich fern von guten Ratschlägen. Von all diesen Leuten, die dann Bücher schreiben und sagen: «Wir haben überlebt, weil wir es richtig gemacht haben». Ehrlich gesagt: Wir hatten einfach Glück. Wir ticken ähnlich. Aber das kann man vorher nicht wissen.
Was war das Wichtigste in dieser Zeit? Also für Euch als Paar?
Achtung voreinander zu haben. Und einfach nur dankbar zu sein, dass der andere spürt, wie er es schafft und was er braucht. Simon musste ab und zu einige Stunden durch den Wald laufen. Das hat ihm Kraft gegeben. Ich musste ein Kochbuch durchblättern mit einer Tasse Schwarztee mit Milch in der Hand, wenn nichts mehr ging. Das erdete mich wieder. Jeder geht diesen Weg so, wie er ihn gehen kann. Das ist in vielem nicht deckungsgleich. Ich musste zum Beispiel alle Bücher lesen, die es überhaupt gibt, von Leuten, die ihre Kinder verloren haben. Simon hat keinen einzigen Satz gelesen. Ich musste auch alles über Tills Diagnose nachschlagen. Simon nichts. Mir hat es geholfen, ihn hätte es runtergezogen.
Das Unverständnis, dass so viele Menschen, die uns kannten, einfach nicht reagiert haben, das bleibt. Es stirbt doch nicht täglich ein Kind in diesem Dorf.
Wart Ihr der Anker für Eure Kinder?
Till und Malin haben sich an uns gehalten. Bei jedem schlechten Bericht haben sie uns angeschaut. Weder Simon hat angefangen zu schreien, noch ich zu weinen. Für sie war es elementar, dass wir es geschafft haben gleich nachdem der Arzt sagte: «Der Krebs ist wieder da», zurück ins Zimmer zu gehen und Paninibildli einzukleben.
All die Leute, die Euch unterstützt haben, sind sie auch heute noch da?
Ich kann mich proaktiv gar nicht um alle kümmern. Was aber nie weggehen wird, ist die Gewissheit, dass ich für all diese Menschen alles machen würde. Ich vergesse das nicht. Ich wäre da für sie. Du wirst ein bisschen zum Elefant. Ich weiss zum Beispiel auch ganz genau, wer ein Kärtchen geschrieben hat und wer nicht.
Du bist noch immer wütend auf gewisse Leute?
Wütend ist wohl das falsche Wort. Aber das Unverständnis, dass so viele Menschen, die uns kannten, einfach nicht reagiert haben, das bleibt. Es stirbt doch nicht täglich ein Kind in diesem Dorf. Da einfach nichts zu tun, obwohl man schon mehrmals bei uns zum Kaffee war oder unsere Kinder zusammen zur Schule gingen, das macht einen fassungslos. Man vergisst ein Leben lang nicht mehr, wer einem einen warmen Zopf vor die Türe gelegt hat oder mit der ganzen Familie an die Abschiedsfeier gekommen ist. Denn in diesem Moment ist jedes Zeichen so überlebenswichtig.
Wie war das Ende?
Es war dieses eine entscheidende MRI. Wir wussten: Wenn jetzt wieder ein Tumor zu sehen ist, dann haben wir keine Therapiemöglichkeiten mehr. Dann muss unser Sohn sterben. Till wollte nach jedem Untersuch immer sofort wissen, wie die Bilder waren. Bis zu diesem einen Tag. Der Tumor, der da gefunden wurde, war so klein, dass er ihn sicher nicht spüren konnte. Aber ich bin mir sicher, er wusste es.
«Ich gehe nicht ins Bett, bevor du mir nicht sagst, was los ist». Ich musste also meiner Tochter sagen, dass ihr Bruder stirbt.
Ihr habt ihm nichts gesagt?
Nein, es war seine Entscheidung. Ich dachte, irgendwann wird er fragen, spätestens wenn er Schmerzen bekommt. Er hat das durchgezogen. Malin reagierte ganz anders.
Wie?
Sie sagte: «Ich gehe nicht ins Bett, bevor du mir nicht sagst, was los ist». Ich musste also meiner Tochter sagen, dass ihr Bruder stirbt.
Und Till?
Irgendwann ist er morgens aufgestanden und hatte Kopfschmerzen. Da hat er gefragt warum und ich habe ihm gesagt, dass man auf den Bildern wieder Tumore entdeckt habe. Das sind Gespräche, die willst du nie in deinem Leben führen müssen. Nie. Deinem Kind zu sagen, dass es seinen Bruder verliert. Und deinem anderen Kind zu sagen, dass da wieder Tumore sind – nachdem es drei Jahre lang so hart gekämpft hatte.
Was wollte er wissen? Und was habt Ihr ihm gesagt?
Ich wusste nicht, wie weit er fragen würde. Aber er hat dann nur gesagt: «Heisst das wieder viel Spital?» Dieser Aussage habe ich entnommen, dass er genug vom Spital hatte. Und ich wusste, ich muss darauf reagieren. Das einzige Geschenk, das ich ihm jetzt machen kann, ist ihm zu sagen, dass es nicht so ist. Ich habe also gesagt: «Nein, ich glaube nicht, dass es viel Spital heisst». Daraufhin hat er aufgehört zu fragen.
Ab dem Frühsommer 2010 wollte er nur noch im Bett sein und meine Hand halten. Ich war 24 Stunden am Tag bei ihm. Wir sind also gelegen. Den ganzen Sommer lang. Haben geredet und Musik gehört. Ich und mein sterbendes Kind.
Till durfte zuhause sterben.
Ja. Wir haben es geschafft, dass wir ihn alleine begleiten konnten. Wir hatten sehr viel Unterstützung vom Palliative-Care-Team des Kinderspitals und vom Hausarzt, die uns Eltern coachten. Ab dem Frühsommer 2010 wollte er nur noch im Bett sein und meine Hand halten. Ich war 24 Stunden am Tag bei ihm, durfte nur aufstehen, um auf die Toilette zu gehen. Wir sind also gelegen. Den ganzen Sommer lang. Haben geredet und Musik gehört. Ich und mein sterbendes Kind.
Hat Till irgendwann übers Sterben geredet?
Nie. Einige Wochen vor seinem Tod hat er immer wieder in den Himmel geschaut und ich habe ihn gefragt, was er denn oben sehe? Er sagte: «Das gibt so ein warmes, beruhigendes Gefühl wenn man in den Himmel schaut.» Diesem Kind hatte noch nie jemand vom Himmel erzählt, wir hatten nichts mit der Kirche am Hut. Und trotzdem passierte da etwas. Etwas, was ich nicht verstand – und noch immer nicht verstehe.
36 Stunden bevor er gestorben ist, hat er im wachen Zustand meine Hand losgelassen und sie ganz sanft weggeschoben.
Gab es einen weiteren solchen Moment?
36 Stunden bevor er gestorben ist, hat er im wachen Zustand meine Hand losgelassen und sie ganz sanft weggeschoben. Und ich habe gemerkt: Jetzt passiert wieder etwas. Denn warum lässt ein Kind, das dreieinhalb Monate, 24 Stunden am Tag meine Hand gebraucht hatte, diese jetzt los? Ich habe ihn gefragt, wie es ihm gehe und er sagte nur, er sei ganz ruhig und es gehe ihm gut. Was er gespürt haben muss, muss so beruhigend und gut gewesen sein. Wie sonst hätte er sich auf die letzten Meter seiner Abflugspiste zu den Sternen alleine aufmachen können? Ich hätte ihm meine Mama-Hand niemals weggezogen. Aber er brauchte sie von diesem Moment an nicht mehr.
Till ist daraufhin noch einmal aufgestanden.
Er wollte unbedingt das Spiel von Bayern München schauen, in seinem Bayernshirt. Er ist also hochgekommen aufs Sofa und sass noch einmal mit uns allen da. So lange war er nicht mehr in der Stube. Wir sind dann runter und ich dachte, jetzt nimmt er sicher wieder meine Hand – aber nein. Kurz darauf ist er ins Koma gefallen und am Abend dann gestorben. Er lag zwischen uns im Bett und hat einfach aufgehört zu atmen. Seither glaube ich, dass wir nur einen Bruchteil davon verstehen, was um uns geschieht. So viel mehr ist da, zwischen Himmel und Erde, als wir meinen.
Kam dann der emotionale Zusammenbruch?
Du bist für immer schwer verletzt. Diese Wunde wird nie mehr verheilen. In meinem Herz fehlt ein Stück und das wird für immer so sein. Da muss ich mir nichts vormachen. Aber wir haben sehr gut weiterfunktioniert. Das hat mich anfangs irritiert, weil viele mir sagten, nun käme das grosse Loch, in dem nichts mehr geht. Aber es war wohl einfach so, dass wir schon vier Jahre lang endlich gelebt haben. Wir hatten schon so viel Abschied genommen, dass im Moment von seinem Tod die Erleichterung grösser war.
Irgendwann darf ein Mensch gehen. Irgendwann ist die Zeit gekommen.
Erleichterung?
Ja, die Erleichterung, dass er so gehen durfte. Sein ganzes Hirn war voller Krebs. Und man hatte uns gesagt, vielleicht kommt da jetzt noch Epilepsie oder er wird blind oder sonst was. Da lag ich so viele Nächte lang wach und hoffte, dass er seine Flügel aufspannen darf, da alles, was noch kommen wird, nur noch schlimmer sein wird. Entsetzlich sein wird. Dass er dann, noch bevor es unaushaltbar wurde, einfach aufgehört hat zu atmen und gehen durfte, das habe ich ihm so sehr gewünscht. Irgendwann darf ein Mensch gehen. Irgendwann ist die Zeit gekommen.
Man verliert ein Kind, wie weiter?
Am Anfang bist du schutzlos. Und du musst abschätzen, was du verträgst und was nicht. Zudem es einfach auch Leute gibt, die haben null Taktgefühl. Da war zum Beispiel eine Frau, die mir sagte: «Ah, du bist das ja mit dem Sohn, der gestorben ist. Was ich schon immer mal fragen wollte, darf man die überhaupt bergraben, wenn sie durch die Chemo so viele Giftstoffe in ihrem Körper haben?» Dann denkst du echt: Oh mein Gott, was mach ich jetzt?
Wenn du ein Kind verlierst gibt es zwei Möglichkeiten: Es gibt die Strasse, die heisst Verbittern und Verhärten. Oder aber du entscheidest dich, zu sagen: «Nein, ich möchte das nicht!»
Du hast überlebt. Und nicht nur das. Du hast aus Tills Tod Herzensbilder gegründet und hilfst damit so vielen anderen Familien, Erinnerungen an diese letzte Zeit zu haben. Erzähl!
Nach Tills Tod war ich auf der Suche nach einem Familienbild und ich habe unsere Fotos durchsucht. Da war kein einziges gutes Bild. Abgesehen davon, dass es eh schon wenig gab, waren auf allen, die wir hatten, entweder jemand mit geschlossenen Augen oder aber sie waren verschwommen. Und dann merkst du: Ich würde alles geben – alles – für ein einziges inniges Bild von uns. Wir als Familie. Gemeinsam. Vereint.
Und dann?
Wenn du ein Kind verlierst, gibt es zwei Möglichkeiten. Es gibt die Strasse, die heisst Verbittern und Verhärten. Oder aber du entscheidest dich, zu sagen: «Nein, ich möchte das nicht!» Ich habe also entschieden: Ich habe dieses Foto nicht, aber ab sofort sollen in der Schweiz Eltern in dieser Situation mit einem SMS oder einem Wunsch an die Pflegenden im Spital diese Bilder bekommen, die ich so gerne hätte. Das war der Ausschlag für Herzensbilder. Das dies jetzt Kreise zieht, dass wir an Tabus rütteln, dass wir das Thema in die Gesellschaft bringen, das ist mega schön.
Wie hast Du das Herzensbilder aufgezogen?
Die Idee war wirklich kurz nach Tills Tod da. Aber weil mich Tills Schwester so fest gebraucht hat nach seinem Tod, kam ich nicht dazu, sie umzusetzen. Erst hochschwanger mit Neele setzte ich die Idee dann auch um.
Schwanger? Wie hast Du nach dieser Geschichte den Mut gefunden, noch einmal ein Kind zu bekommen?
Malin hat nach Tills Tod immer wieder gesagt: «Ich habe ein Schwesternherz». Ich dachte: Das ist einfach nicht möglich. Wir haben sie fast verloren, haben dann Till verloren, mehr kannst du nicht auf den Deckel bekommen. Wie sollen wir uns trauen, dem Leben erneut eine Chance zu geben? Doch was leben wir Malin vor, wenn wir nichts mehr wagen, weil etwas passieren könnte. Und so gaben wir neuem Leben eine klitzekleine Chance und die hat Neele sich geschnappt. Ich wurde sofort schwanger.
Das hat viel Mut gebraucht.
Ja, das hat es. Neele ist das Mutigste, was wir in unserem Leben gewagt haben. Denn das Urvertrauen ist eigentlich weg. Trotzdem: Wir leben. Und lassen vor allem unsere Kinder leben. Wie dem auch sei, kurz vor dem geplanten Kaiserschnitt, habe ich dann Herzensbilder initiiert. Ich habe nach Kinderfotografen gegoogelt und 80 angeschrieben. Mit der einfachen Botschaft: «Ich habe kein Geld, Ihr fotografiert nur immer die schönen Seiten des Lebens, ich brauche Euch für die ganz schwierigen. Kann sich irgendjemand vorstellen, mir zu helfen?» Ich dachte, wenn ein einziger zurückschreibt, habe ich schon sehr viel Glück.
Es kam Antwort?
75 schrieben. Und wollten es probieren. Ich habe eine Facebookseite gemacht und dann ging es sehr schnell. Nur eine Woche später kontaktierte mich schon das erste Mami, das wusste, dass ihr Kind bald auf die Welt kommt und dann nur Tage später am Herzen operiert werden muss – mit ganz ungewissem Ausgang. Es gab also vielleicht nur diese paar Tage, um festzuhalten, dass es überhaupt da war. So hat’s angefangen. Bald kamen dann auch unsere Visaigstinnen und Coiffeusen ins Team, die auch für die Familien da sind.
Es war also eigentlich nie ein kleines Projekt.
Nein, die Zeit des Wachstums haben wir irgendwie übersprungen. Herzensbilder wurde gebraucht. Nur wenig später haben wir dann den Helden des Alltags Preis gewonnen, der uns Medienpubliziät gab. Dann ging alles Schlag auf Schlag.
Du bist aber nicht alleine?
Fast drei Jahre habe ich es alleine gemacht. Ich schrieb jedem einzelnen Spender von Hand ein Dankeskärtli, habe Accessoires organisiert, damit die Fotografen inmitten von Intensivstationen schöne Bilder machen können, habe alle Einsätze aufgegleist und die Familien wie unser Team betreut.
Alles mit unglaublich viel Hingabe und Herz.
Das war mir wichtig, ja. Aber irgendwann habe ich gemerkt, ich kann nicht mehr schlafen. Ich wusste also: Entweder ich mache zu – denn downsizen wollte ich unter keinen Umständen – oder aber ich brauche Hilfe. Ich habe mir immer wieder sagen müssen: «Ich kann einfach auch wieder aufhören. Ich muss das nicht».
Du hast Hilfe gefunden?
Ja. Erst habe ich angefangen Frauen zu suchen, die ehrenamtlich helfen, um die Dankeskärtli und Geschenke zu verschicken zum Beispiel. Jetzt habe ich 75 Stellenprozent im administrativen Bereich geschaffen. Ich arbeite immer noch kostenlos, aber zumindest kann ich den Frauen einen kleinen Lohn auszahlen. Wir haben jetzt auch ein Einsatzleitungsteam, auch da habe ich Hilfe.
Auch wenn du nie versprechen kannst, dass du es schaffst, einen Einsatz zu organisieren, weisst du: Du musst. Denn da sind Eltern, die verlieren ihr Kind.
Ihr seid sieben Tage die Woche erreichbar?
Genau. Denn das Leben spielt sich nun mal nicht zu Bürozeiten ab. Ich konnte das nicht mehr abdecken. Meine Kinder kamen nie zu kurz, aber ich bin fast drauf gegangen. Wir haben jetzt fünf Frauen, die das übernehmen. Wir haben ein Piket-Telefon, das auf ihre Nummern umgeleitet ist und sie organisieren die Einsätze. Sie suchen den Fotografen und immer wieder auch Coiffeusen und Visagistinnen, die die Familie noch liebevollst zurecht machen vor dem Shooting. Das tut jedes Mal so unglaublich gut mitten im Sturm, wenn einem jemand die Augenringe wegwischt und die zerzausten Haare schön herrichtet.
Das geht an die Nieren.
Oh ja, es kostet so viel Herz und Nerven. Denn wenn dieser Anruf kommt vom Kispi, dass da zum Beispiel eine Nottaufe ist und Eltern, die sich noch Bilder wünschen, dann bist du wie auf Nadeln. Denn auch wenn du ihnen nie versprechen kannst, dass du es schaffst, einen Einsatz zu organisieren, weisst du: Du musst. Denn da sind Eltern, die verlieren ihr Kind.
Herzensbilder ist aber nicht «nur» das. Herzensbilder hat so viel mehr bewegt.
Das stimmt. Es gibt so viele Nebenschauplätze. So viele Dinge, die wir den Menschen mit auf den Weg geben können.
Beispiel?
Wie man mit Eltern umgeht, die gerade ein Kind verloren haben. Die Leute sagen: «Ja, weisst du, es ist halt so schwierig mit der Situation umzugehen». Das macht mich so unfassbar wütend. Denn: Für wen ist es jetzt gerade schwierig? Das Schlimmste was man machen kann, ist eben nichts zu machen. Als ich drei Tage nach Tills Tod zum Einkaufen ging, stand ich in diesem Laden und kein Mensch hat etwas gesagt. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Entweder wir ziehen um, oder aber ich – diejenige, die eigentlich schwerverletzt ist – muss jetzt jedes Mal mit jemandem das Gespräch suchen. Und diese Person dann trösten, weil sie fängt anfängt zu weinen. Aber das war meine einzige Chance.
Wenn Ihr also an jemandem vorbeigeht, der gerade sein Kind verloren hat, dann bitte sagt was. Und wenn es nur ist: «Ich weiss nicht, was sagen, aber ich kann nicht so tun, als hätte ich dich jetzt nicht gesehen»
Was ist also Dein Rat?
Wenn man an jemandem vorbeigeht, der gerade sein Kind verloren hat, dann bitte sagt was. Und wenn es nur ist: «Ich weiss nicht, was sagen, aber ich kann nicht so tun, als hätte ich dich jetzt nicht gesehen». Sie wird dir das nie mehr vergessen. Aber geht nicht hinters Gestell, um euch zu verstecken.
Ist für Dich nicht jeder Fall Deine Geschichte noch einmal von vorne durchleben zu müssen?
Nein, ich bin ja nicht mehr so nahe dran. Für die Fotografen ist es viel krasser. Die sind mitten drin, mitten drin bei dieser Familie, die sich inmitten dieses unfassbaren Sturms befindet. Ich hätte mir so fest eine Mutter gewünscht, die diesen schweren Weg schon gehen musste. Als Unterstützung. Und deswegen mache ich das auch. Ich weiss, ich muss das nicht tun. Aber wenn mir ein Mami nach einem Gespräch eine Nachricht schreibt und mir sagt: «Ich glaube, wir können diesen Weg gehen. Ich glaube, wir schaffen das». Dann weiss ich, dass ich mit meiner Zeit nichts besseres hätte machen können. Dann ist halt meine Wäsche liegen geblieben oder mein Geschirrspüler nicht ausgeräumt, aber das ist ok. Und wenn ich mitten in der Nacht eine Nachricht bekomme, mit der Frage «Überlebt man das?», dann weiss ich, meine Antwort ist wichtig. Denn die Frauen glauben an das, was ich ihnen sage, weil ich weiss, von was ich rede.
Herzensbilder macht die Schweiz mutiger.
Einer der schönsten Sätze, die ich gehört habe. Leute, die sich getraut haben zu helfen. Die sich ein Herz gefasst haben und da waren. Weil sie unsere Geschichten lesen. Die einer Familie im Sturm geholfen haben, obwohl sie Angst hatten, obwohl sie nicht wussten, wie man mit solchen Situationen umgeht. Und die dann gesagt haben: «Wir hätten sie mutig gemacht». Unbeschreiblich.
Wie viele Einsätze macht Ihr denn pro Jahr?
Bis jetzt sind es insgesamt etwa 1200. Im Moment sind es wahrscheinlich fünf bis sechshundert Einsätze jährlich.
Ich glaube daran, dass wir jemanden finden, der Herzensbilder finanziert. Dast ist mein ganz persönlicher Weihnachtswunsch.
Wie finanzierst Du das?
Wir sind jetzt da, wo die Stiftung Theodora und Wunderlampe wohl auch mal waren: Wir sind zu etwas wirklich Grossem geworden. Und so mussten wir für das nächste Jahr ein Budget erstellen. 350‘000 Franken brauchen wir. Und das ist wirklich knapp berechnet. Wir fahren alles auf dem Minimum. Wir haben eine Druckerei, die kostenlos für uns druckt, unser Lager ist sehr kostengünstig, ich arbeite noch immer gratis, die Löhne sind tief, die Fotografen arbeiten ehrenamtlich. Ich habe sie aber jetzt soweit, dass sie mir zumindest die Spesen verrechnen. Sie geben uns ihre kostbare Zeit, da will ich wenigstens das Benzin bezahlen und ein Abendessen. Aber: Wir machen pro Tag ein bis vier Einsätze. Ich weiss nicht, ob das längerfristig finanzierbar ist.
Durch Spenden?
Wir haben extrem viele Kleinspender. Ich glaube, den Leuten ist bewusst geworden, dass es morgen auch ihr Mann oder ihr Kind treffen könnte. Die Wertschätzung und Dankbarkeit ist extrem hoch. Aber damit kommen wir nicht auf 350‘000 Franken. Wir müssen versuchen, Stiftungen anzuschreiben. Oder auf den Millionär hoffen, für den es nicht darauf an kommt 350‘000 Franken auf seinem Konto zu haben oder nicht. Es gibt so viel Geld in diesem Land. Ich hoffe so fest, dass da jemand ist, der uns in die Zukunft trägt.
#undzumschlussnochdies
Wir hoffen alle, dass wir dieses Projekt nie brauchen werden. Dass uns das Schicksal nie so mitspielt. Aber das dachten alle Eltern. Alle, die so dankbar waren, dass es Herzensbilder gibt.
Deshalb wäre es schön, wenn unsere Leserinnen etwas von ihrem Weihnachtsgeld spenden. So wie wir.