Melanies Welt ging in dem Moment unter, als sie die Diagnose erhielt, dass ihre Tochter Emma am Williams Beuren Syndrom leidet. Wobei leiden das falsche Wort ist: Der Alltag der kleinen Familie ist normaler, als Melanie sich das vor 2,5 Jahren vorgestellt hatte. Dafür ist sie dankbar. Und wir dafür, dass sie uns einen so schönen, warmherzigen und mutmachenden Einblick in ihr Leben gewährt hat.
Melanie ist Mutter eines Kindes mit dem Williams Beuren Syndrom. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann Thomas, Emma und Baby im Bauch in Zürich.
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Tadah: Life before Emma: Wie war das?
Es war ein super Leben. Ich war viel unterwegs, hab mir fremde Städte angesehen, gereist, war in Clubs und mit Freunden unterwegs. Damals habe ich beim Kanton Zürich als Assistentin im Hochbaudepartement gearbeitet.
Und dann kam Emma. Und mit ihr eine ganz grosse Umstellung.
Ich dachte, dass ich während der Schwangerschaft alle möglichen und nötigen Test gemacht habe. So wie das wohl alle Schwangeren denken. Diese normalen Tests beinhalten jedoch «nur» die Befunde für Trisomie 13,18 und 21. Da alles gut war, gingen wir davon aus, dass auch alles gut ist.
Als Emma auf die Welt kam, dachte ich sofort: «Da stimmt etwas nicht.» Sie war sehr blau und hatte eine sehr auffällige Nase. Jedoch habe ich damals niemandem etwas von meinen Unsicherheiten gesagt. Ich war ja das erste Mal Mutter geworden, da ist man ja per se unsicher.
Wann kam der Befund?
Bei der ersten Monatskontrolle fand man ihren Herzfehler und bei der Viermonatskontrolle meinte die Kinderärztin, dass Emma behindert aussieht. Ob wir nicht einen Gentest machen wollten, um sie auf das Down Syndrom oder das Williams Beuren Syndrom zu testen.
Es dauerte vier Wochen, bis wir einen Termin bekamen und weitere vier Wochen bis wir das Resultat hatten. Und als wir ebendieses in den Händen hielten, brach ich zusammen.
Die Diagnose: Williams Beuren Syndrom. Erzähl.
Die Diagnose bedeutet, dass unser Kind eine geistige Behinderung und auch körperliche Einschränkungen hat. Es war die Genetikerin, die uns dann mehr oder weniger über die Diagnose aufklärte. Den Rest haben wir aus dem Internet.
Die Genetikerin erklärte, dass Emma keine verkürzte Lebensdauer hat, jedoch in der Entwicklung verzögert sein wird. Und auch, dass die Schere zu nicht behinderten Personen mit den Jahren einfach immer grösser wird und Emma zwar viele Meilensteine erreichen, jedoch nie aufholen wird.
Uns war in dem Moment am wichtigsten, dass Emmas Herzfehler genau beobachtet wird. Zum Glück brauchte sie bis heute keine OP am Herzen. Auch informierte man uns, dass die Möglichkeit eines Leistenbruchs sehr hoch ist. Kurz nach Emmas zweitem Geburtstag war das dann auch der Fall. Im November 2020 hatte sie dann die OP. Nun ist auch die zweite Seite durchgebrochen. Die nächste OP wird wohl erst im Herbst stattfinden, wenn das Baby auch schon da ist – das Kispi ist leider momentan voll.
Wie ging es weiter?
Man hat uns dann an die Klinik in Duisburg in Deutschland verwiesen. Dort sind die Ärzte spezialisiert auf WBS. Die Oberärztin empfahl uns, dass Emma Physio nach Bobath bekommt. Bedeutet: mit 1.5 Jahren hatte sie Ergotherapie und frühestens mit vier Jahren sollen wir einen IQ und EQ Test durchführen.
Die Genetikerin meinte damals auch, dass Emma milde betroffen sei. Eine solche Aussage fand ich schwierig, sie war ja damals erst sechs Monate alt. Auch meinte sie, dass Emma Kinder bekommen könne. Die Möglichkeit, dass sie jedoch das WBS weiter vererbt, liegt bei 50%. Wir müssen Emma bezüglich ihrer Schilddrüsen und ihrer Kalziumwerte regelmässig testen lassen. Zudem müssen wir Nierenescans machen sowie das Gehör und die Augen testen.
In dem Moment hatte ich das Gefühl, mehr Pflegeperson als Mutter zu sein. Heute kann ich ganz klar sagen, dass 100% Mutter bin.
Was bedeutete diese Diagnose für Dich und Deinen Mann damals?
Für meinen Mann war es nur wichtig, dass sie keine kurze Lebensdauer hat. Ich jedoch fiel in ein grosses Loch. Ich dachte, mit dieser Diagnose geht meine Welt unter und dass alles keinen Sinn mehr macht. Ich las im Internet auch nur das Negative – was Emma alles für schlimme Sachen haben wird. In dem Moment hatte ich das Gefühl, mehr Pflegeperson als Mutter zu sein. Heute kann ich ganz klar sagen, dass 100% Mutter bin.
Wie habt Ihr Eurer Familie und Freunden gegenüber kommuniziert?
Uns war wichtig, dass die ganze Familie und unsere Freunde sofort von der Diagnose wussten. Wir haben auch geschrieben, dass wir kein Mitleid möchten, Hilfe jedoch sehr gerne annehmen.
Du hast ein Insta-Profil, bzw. einen Blog, in dem du über das Williams Beuren Syndrom schreibst. Weshalb?
Auf Instagram habe ich nach anderen Familien gesucht und gemerkt, dass es keine deutschsprachigen Profile gibt. Ich war eigentlich bis zu diesem Zeitpunkt sicher: Ich werde mein Kind nie im Internet zeigen.
Ich möchte zeigen, dass das Leben nach einer solchen Diagnose weitergeht und gar nicht immer gross anders ist, auch wenn wir ein paar Termine mehr haben.
Das Schreiben, Berichten und Austauschen in den letzten zwei Jahren hat mir aber sehr geholfen mit der Diagnose klarzukommen. So entstand Emmas Profil. Ich möchte zeigen, dass das Leben nach einer solchen Diagnose weitergeht und gar nicht immer gross anders ist, auch wenn wir ein paar Termine mehr haben. Ich möchte zudem auch die Hemmschwelle senken und eine Tür öffnen um Fragen zu stellen und zu zeigen, dass man von unseren Kindern nicht Angst haben muss.
Wie ist Euer Alltag jetzt?
Ehrlich gesagt: ganz anders als nach der Diagnose erwartet. Und bin so dankbar dafür. Ich gehe mit Emma ins Fitness und gebe sie dort in den Fitnesshort, sie geht zweimal die Woche in die Krippe, Nachmittags haben wir Playdates, im Sommer lasse ich die Therapien ganz weg und wir sind den ganzen Tag in der Badi.
Der wirklich grosse Unterschied sind wohl die Therapien und das wir sicher mehr Arzttermine im Jahr haben. Alles andere ist gar nicht so anders wie bei Familien ohne Kindern mit Behinderung. Wir integrieren im Alltag einfach Emmas Förderung sehr. Das heisst, man bekommt schnell ein Auge dafür, was man im Alltag alles machen und gebrauchen kann um Emma zu fördern.
Was ist an Emma denn konkret anders als an anderen Kindern?
Emma ist in der Entwicklung verzögert. Sie krabbelte erst mit 18 Monaten und mit fast 2.5 Jahren begann sie frei zu laufen. Als Emmas gleichaltrige Freunde bereits liefen, sassen wir immer noch gemütlich auf der Picknickdecke. Ich hatte dafür keine Bedenken, dass mein Kind irgendwo ins Wasser fällt oder vor ein Auto springt.
Wenn ich dabei bin, hat sie auch keine Mühe, zu Fremden zu gehen. Besonders nicht, wenn diese beispielsweise Chips haben und sie auch welche haben will. Sie sagt auch fast jedem Hallo und Ciao.
Wie geht es Dir an guten Tagen? Wie gut kannst Du das Leben mit Williams Beuren Syndrom annehmen?
Zum Glück sind die guten Tage mehr als überwiegend. In dem Alter, in dem Emma nun ist, ist es einfacher, denn der Unterschied zu Gleichaltrigen ist momentan noch nicht so gross und wir haben eigentlich fast keine Hürden. Heisst: Sie wird überall integriert, mitgenommen und eingeladen. Das hilft schon sehr, eine solche Diagnose anzunehmen, wenn das Umfeld einen total unterstützt und das Kind so nimmt, wie es ist.
Mittlerweile gibt es keine schlechten Tage mehr, sondern eher schlechte Stunden oder Minuten.
Und wie gehts Dir an einem schlechten Tag? Was denkst du dann?
Mittlerweile gibt es keine schlechten Tage mehr, sondern eher schlechte Stunden oder Minuten. Meistens bin ich dann traurig und weine. Für mich ist es wichtig, dies rauszulassen und danach weiterzumachen. Aber diese Momente sind wirklich weniger geworden. Ich habe mir gesagt, dass Emma selber glücklich ist.
Meistens bin ich nur dann traurig, wenn etwas vorfällt. Es muss nicht mal wegen Emma selber sein. Zum Beispiel dann, wenn die IV wieder sagt, dass das WBS nicht auf der IV-Liste ist und wir somit einen Teil der Therapien selber zahlen müssen. Zum Glück ist das Williams Beuren Syndrom aber ab 2022 endlich auf dieser Liste und somit sollte die Bürokratie auch einfacher werden.
Was sind Deine Ängste in Bezug auf Emma?
Das sie mit Fremden mitgeht. Oder dass sie verunfallt, weil sie Gefahren nicht einschätzen kann. Und auch, das sie keine Chance bekommen wird, in die Regelschule zu gehen oder eine Lehre zu machen, wenn sie das Potential dazu hätte.
Hast Du schlechte Erfahrungen mit den Reaktionen der Leute gemacht?
Nein noch nie und dafür bin ich sehr dankbar. Aber ich bin da realistisch. Das kann mit der Zeit noch kommen. Jetzt ist es noch mega süss, wenn sie zu Fremden geht und Chips will. Wenn sie sieben oder acht Jahre alt ist, wird das wohl weniger gut ankommen. Wir werden sehen, was das für Erfahrungen sein werden.
Was waren bis anhin Deine positiven Erlebnisse?
Das Emma mit der Diagnose in der Regelkrippe bleiben durfte. Und dass die Krippe bei allem mitmacht. Sei es am Anfang mit den Physioübungen oder mit dem Trockenwerden. Die Krippe nimmt und unterstützt Emma sehr und dafür sind wir so dankbar.
Ebenfalls positiv ist, dass noch nie jemand etwas Negatives gesagt hat und wir die Leute sogar zum Umdenken bringen, dass man beispielsweise das Wort «behindert» oder «Mongo» nicht mehr als Beleidigung verwendet.
Arbeitest Du nebst der Betreuung von Emma?
Ich arbeite, weil ich alle meine Ausbildungen nicht gemacht habe um danach zuhause zu bleiben. Mir gibt das Arbeiten sehr viel. Ich ziehe hier meinen Ausgleich und meine Energie, um für Emma voll dazu sein – und um selber unabhängig zu sein. Es ist für mich eine Ruhe- und eine Energieinsel. So kann ich in der Mittagspause entweder alleine ins Fitness, in die Kosmetik, in Ruhe essen oder einfach bummeln.