Seit Oktober lebt Amelie Böing mit ihrem Lebenspartner, ihrem 15 Monate alten Sohn Nuori und ihrer Wolfshündin Elu in einer sogenannten Tiny Villa, kurz Tilla. Wie sie – notabene bereits wieder hochschwanger – das autarke Leben auf kleinem Raum mit Familie meistert, was sie davon lernt und wie es in Sachen Wohnraum für die kleine Familie weitergeht, hat sie uns in einem eindrücklichen Gespräch erzählt.

Amelie Böing ist Eigentümerin der Tilla und wohnt mit ihrem Freund und ihrem Sohn (15 Monate) in Au/Wädenswil.
projekt-tilla.ch
Tadah: Liebe Amelie. Alle reden von Minimalismus. Ihr lebt ihn – wie genau?
Das Wort Minimalismus impliziert ja, dass man auf minimalem Niveau lebt. Dabei leben wir im Maximalismus. Es stimmt, wir haben vielleicht weniger Konsumgüter als andere. Wenn man das darauf bezieht, dann leben wir tatsächlich minimal. Aber wir haben beispielsweise sehr viel mehr Zeit zur Verfügung und deshalb auch eine enorme Lebensqualität, gerade weil wir unser Leben mit unserem Kind so eingerichtet haben.
Also ein Luxusleben?
Ja, tatsächlich. Es ist wirklich so, dass wir oft denken: Wow, was haben wir für einen Luxus im Vergleich zu anderen Eltern, weil wir soviel Zeit miteinander verbringen können.
Ihr arbeitet also bewusst weniger?
Um am Konsummarkt teilzunehmen, musst du ja eine gewissen Geldstandard erreichen. Den haben wir so nicht. Wir sind 33 und 34 Jahre alt und haben uns unser Eigenheim ohne Schulden leisten können. Das ist schon etwas anderes, als hätten wir als Familie für über eine Million etwas gekauft und sässen jetzt auf einem Schuldenberg. Also haben wir nun auch die Möglichkeit, weniger zu arbeiten. Wir arbeiten beide gern, haben beide einen Brotjob von etwa 60%. Wobei ich momentan Vollzeit daheim bin. Zudem haben wir daneben noch diverse Projekte. Langweilig wird uns nie.
Alles was ich mache, muss entweder etwas für meinen Körper oder etwas für meine Kreativität sein.
Und von Eurem Daheim wohl auch nicht.
Ich bin gebürtige Deutsche. Als ich hier in die Schweiz kam, war das neue Land gleichzeitig auch mein Versuchsort für viele Dinge. Ich bin hier angekommen und hab mir gesagt: «Alles was ich mache, soll entweder etwas für meinen Körper oder etwas für meine Kreativität sein.» So arbeitete ich als Hundesitterin oder Fahrradkurierin. Vor zwei Jahren habe ich Collaboration Helvetica kennengelernt. Ein Verein für Menschen, die Wandel leben wollen. Das war so: «Wow, jetzt komme ich an».
Apropos ankommen: Da kommt auch bald wieder jemand bei Euch an.
Ja genau. Im Oktober habe ich gemerkt, irgendwas ist anders. Ich wollte nur noch schlafen, mir war ständig schwindlig. Das kam mir doch bekannt vor, aber: der erste Schwangerschaftstest war negativ. Drei Wochen später ebenfalls. Erst Ende Oktober hatte ich es dann schwarz auf weiss. Ich hatte zwar Respekt, aber ich freute mich auch. Ein Überraschungskind. 15 Monate sind sie dann auseinander. Das wird hier in der Tilla jetzt auch ein Trial und Error mit den beiden Kindern.



Das Haus, in dem ihr wohnt, nennt sich Tilla. Eine tiny villa. Was ist das Tilla Konzept?
Auf der einen Seite, ist die Tilla Wohnraum für uns als Familie. Jetzt ist aber diese Art von Wohnraum noch kaum populär in der Schweiz – übrigens auch in Deutschland nicht. Die Leute denken, solche Wohnformen sind nur etwas für Hippies und Zigenuer. Und weil das Mindset so ist, hat es auch nie eine Lobby gegeben für Menschen, die so leben möchten. Niemand hat dafür gesorgt, diese Wohnform einfach in Betrieb genommen werden kann.
Man könnte ja meinen, dass man es mit so einer Wohnform einfacher hat?
Nein, gerade eben leider nicht. Wir mussten den Weg gehen, wie wir es auch mit einer normalen Immobile hätten tun müssen. Obschon es eben eine Mobilie ist. Ein Beispiel: Fast das Teuerste war das Abwassersystem. Wir bräuchten es gar nicht, da wir eine eigene Pflanzenkläranlage haben und unser Wasser zurückführen könnten. Das macht für uns nicht wirklich Sinn.
Also helft Ihr nun jenen nach Euch, die es einfacher haben sollen mit ihrer Mobilie?
Wir sind daran, den Weg zu öffnen und zu sagen «Schau, es hat ja für alle Vorteile. Warum es den Leuten, die so leben wollen, schwerer machen als man muss?» Es gibt grosses Interesse an dieser Wohnform. Ein Beispiel: Der Verein Kleinwohnform hatte in seinem ersten Jahr bereits über 700 Mitglieder. Das sind viele Menschen, die sich, genau wie wir, sagen: wir trauen es uns zu.
Die Systeme, die wir hier verwenden, sind ein Mehrwert für die ganze Gesellschaft.
Was wir konkret dafür tun, damit es andere vielleicht mal einfacher haben? Wir öffnen unsere Türen und sagen: Kommt uns besuchen und erlebt es mal, damit euer Bild sich ändert. Wir arbeiten mit einem grossen Netzwerk und Universitäten zusammen und gehen in den Dialog mit der Politik und der breiten Bevölkerung.
Zudem weisen wir nach, dass die Systeme, die wir hier verwenden, ein Mehrwert sind für die ganze Gesellschaft. So ein Pflanzenabwassersystem würde nämlich auch für ein Haus Sinn ergeben. Unser grosser Traum, die grosse Vision: Dass wir den Weg ebnen für ein Tilla-Dorf, wo wir dieses Konzept vertieft leben können.



Was braucht Ihr wirklich fürs Leben?
Genug Zeit für uns. Damit wir in eine Entschleunigung kommen, in der wir uns wieder begegnen können. Wenn wir das haben, haben wir genug Energie, die uns weiterbringt. In Zeiten in denen es mega dicht ist, wir uns zuviel aufgehalst haben, da wirds auf allen Feldern schwierig – wie bei allen anderen Familien auch.
Nebst Zeit braucht man aber auch ganz schön viel Energie-Wissen für ein selbstversorgendes Haus oder?
René liebt es, sich mit Energie auseinanderzusetzen. Er war insgesamt sechs Jahre am Reisen. Allein schon, dass er vorher ausrechnet hat, mit welchem Verkehrsmittel er am effektivsten unterwegs ist, zeigte mir: aha, so einer bist du. Energie ist seine grosse Leidenschaft. Hier ist somit sein Eldorado. Und meins immer mehr – ich habe sehr viel darüber gelernt.
Macht autarkes Wohnen immer Spass?
Es wie mit allem: Man hat gute Tage und man hat genervte Tage. Bei zweiteren nervt einen alles. Wir haben im Winter gestartet, da hatte ich wirklich Schiss vor. Wir sind Ende September gekommen, der Winter war zwar gnädig mit uns, aber er kam. Es wurde kalt und ich stand anfangs mit diesem Ofen auf Kriegsfuss. Es ging einen Moment, bis wir raushatten, wie wir den Ofen anfeuern müssen, so dass die Qualmdichtung in der Tilla erträglich ist. Das war schon mühsam, vor allem weil mir in der Frühschwangerschaft von dem Qualm ständig übel wurde. Aber die Hauptsache ist, dass ich nun weiss, wie es geht.



33m2 mit Mann, Kind und Hund: jässes. Da muss man sich fest gern haben.
Bevor wir hier eingezogen sind, hatten wir während eines halben Jahres nur 15 Quadratmeter zur Verfügung. Die Tilla kam nämlich mit ordentlich Verspätung und wir hatten eines unserer Zimmer in der Gemeinschaft, wo wir leben, bereits weitervergeben. Es hatte somit nur noch einen Raum für uns alle übrig. Aber wir haben ja nicht nur 33 Quadratmeter. Wenn wir uns auf den Sack gehen, dann kann ich ja in die Gemeinschaft in unser Zimmer. Das haben wir nämlich behalten, weil es auch unser Zuhause ist. Hier lebt unsere Gemeinschaft.
Das haben wir uns in unserer Gesellschaftsform extrem verloren. Jeder wurstelt für sich alleine.
Erzähl von dieser Gemeinschaft. Was müssen wir uns darunter vorstellen?
10 Erwachsene, 2 Kinder, 1 Hund. Also 13 Wesen in einem Haus. Als Nuori geboren wurde, war das ein sehr spezielles Erlebnis. Ich habe ihn in unserem Haus geboren, es war mega schön. Das ist ein gutes Bild, was Gemeinschaft für mich bedeutet. Du bist in deinem eigenen Prozess, aber es gibt drumherum Leute, die daran teilhaben und mit dir mitdenken und -fühlen.
Das haben wir uns in unserer Gesellschaftsform extrem verloren. Jeder wurstelt für sich alleine. Wenn ich aber morgens runterkomme, um Frühstück zu machen, dann bin ich nicht alleine. Dann sitzen noch 2-3 Leute mit am Tisch, die völlig selbstverständlich Nuori eine Stulle schmieren, ihm seine Flasche reichen, ihn auf dem Arm halten oder mit ihm spielen. Diese kleinen Dinge sind eine grosse Entlastung.





Also nie den Bedarf nach Rückzug?
Wir wir haben einen neuen festen Rhythmus: Ich hab einen Tag die Woche für mich, da bin ich allein ohne Kind unterwegs. Und ich hab sogar noch einen Abend und eine Nacht hier in der Tilla allein. Das hat jeder von uns und das geniessen wir beide auch sehr.
Was möchtet ihr Nuori mitgeben? Und was eben nicht?
Bevor Nuori geboren wurde, haben wir tatsächlich einen Wertekompass als Eltern gemacht und ihn uns gegenseitig erzählt. Wo wir beide einen Match hatten ist: Wir wollen immer mit Neugier auf dieses Kind gucken. Das ist etwas, das wir uns beide für ihn wünschen: Dass er seine Neugier fürs Leben behält, dass er gern lernt, sich gern ausprobiert in neuen Sachen. So wie wir.

