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Tadah

Dana Grigorcea: «Neben der Literatur erzieht auch die Mutterschaft zur Empathie.»

Dana Grigorcea schreibt Bücher für Gross und Klein. Spätestens nach dieser Aussage war uns klar, warum sie damit so erfolgreich ist: «Schreiben ist wie die Erzählung eines Traumes. Man erinnert sich an ihn, will ihn greifen, aber im Moment, da man ihn erzählen will, löst er sich auf. Das Schreiben ist das Greifen nach ebendiesem Traum. Ein Kampf mit dem Flüchtigen.» Schöne Worte. Aber lest selbst.

Bilder von Dominic Wenger

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Dana Grigorcea ist Schriftstellerin. Sie schreibt  Erwachsenenliteratur und Kinderbücher. Für ihren zweiten Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern Thomas (6) und Maria (8) lebt sie in Zürich. grigorcea.ch

Tadah: Du bist Autorin und Mutter. Ist es nur logisch, dass Du also auch Kinderbücher schreibst?
Für mich ja. Ich habe bei meinen Kindern wenig Autorität. Aber ich überzeuge sie, Dinge zu machen, in dem ich ihnen Geschichten erzähle. So sind meine Kinderbücher entstanden.

Und das funktioniert?
Tut es. Als sie nicht schlafen wollten, ist das Buch «Mond aus!» entstanden. Es ist die Geschichte eines Wolfes, der nicht schlafen kann, weil ihn der Mond blendet. Aus Empathie mit dem Wolf sind meine Kinder schliesslich eingeschlafen. Dann wollten sie sich nicht die Haare schneiden lassen – so entstand das Buch über den Pudel, dem seine Freunde einen Gang zum Friseur empfehlen. Und dann ist da das letzte Buch: «Der Nase nach». Es widmet sich dem Thema Essen. Denn klassischerweise wollte auch meine Kinder weder Gemüse essen, noch mit mir auf den Markt kommen. Ich wollte ihnen den Genuss näher- und beibringen.

Wie finden es Deine Kinder, dass Du Bücher schreibst?
Toll. Und sie sind mächtig stolz. Auch mir macht es grosse Freude. Ich habe für die Kinderbuchmesse in Bologna, an der die Schweiz nächstes Jahr Gastland ist, auch schon zwei neue Kinderbücher in petto. Aber Kinderbuchautorin sein, macht mich auch nervös.

 

Ich will Kindern nicht schmeicheln oder mich anbiedern. Kinder bringen mich zum Nachdenken. Alles was man ihnen erzählt hat einen Nachhall.

 

Inwiefern?
Ich bin furchtbar aufgeregt, wenn ich vor Kindern auftrete. Ungleich mehr aufgeregter als vor Erwachsenen.

Wieso?
Ich kann vor Erwachsenen auch spontan problemlos eine Rede halten. Und dann bei den Lesungen trage ich aus dem, was ich geschrieben habe, vor, respektive ich erzähle über den Schreibprozess. Ich weiss, dass ich alle Fragen, die man mir stellt, auch beantworten kann. Es ist keine Prüfung. Es geht um das, was mich beschäftigt, was ich gemacht habe. Wenn dann aber ganz viele Kinderaugen mich anstarren, dann blockiere ich.

Weil Kinder ehrlich sind?
Nein, darum geht es nicht. Ich möchte die Kinder ja nicht hinters Licht führen. Mich interessiert einzig ihre Reaktion. Ich will ihnen nicht schmeicheln oder mich anbiedern. Ich will mit den Büchern auch nicht unbedingt Erfolg haben. Kinder bringen mich zum Nachdenken. Ist es wirklich wichtig und richtig, was ich da geschrieben habe? Ist es eine Geschichte, die erzählt werden muss? Kinder sind formbar, sie überlegen sich so vieles. Alles, was man erzählt, hat einen Nachhall.

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Du selbst liest Deinen Kindern also viel vor?
Sehr viel, ja. Auch jeden Abend bis sie einschlafen. Und zwischen den Lesepassagen unterhalten wir uns. Ich frage mich oft, welche Art von Geschichten man Kindern vorlesen soll. Sollen wir ihnen verweichlichte Geschichten lesen? Geschichten also, in denen alles gut ist? Oder sollen es Geschichten sein, die sie in ihren Ängsten auffangen? Oder darf man auch Hans Christian Andersen lesen?

Darf man?
Ich finde. Vor Kurzem habe ich ihnen zum Beispiel den standhaften Zinnsoldaten vorgelesen. Am Schluss wird er ins Feuer geworfen und schmilzt und auch die Papierballerina verbrennt. Aber von ihnen bleibt ein Herz übrig und eine kleine Rose. Dieses Bild hat meinen Kindern sehr gut gefallen. Kinder haben eine Sensibilität und eine Offenheit, die man pflegen muss.

 

«Wissen Sie, irgendwer muss mir dann ein Zeichen machen, wann ich aufhören muss. Denn ich bin es gewohnt zu lesen, bis alle eingeschlafen sind.»

 

Du liest und schreibst aber nicht nur für Kinder.
Ich habe drei Romane veröffentlicht. Doch auch da gibt es ab und zu Verbindungspunkte zu meinem Mutterdasein. Vor Kurzem habe ich bei einer Lesung, bei der kein Moderator vor Ort war, dem Publikum gesagt: «Wissen Sie, irgendwer muss mir dann ein Zeichen machen, wann ich aufhören muss. Denn ich bin es gewohnt zu lesen, bis alle eingeschlafen sind.»

Du sagst, die Kunst erzieht uns zu Empathie. Ist das der Grund, warum Du Kunst machst?
Es ist ein guter Grund. Aber man kann dies auch anders erreichen. Wieso ich mache, was ich mache? Ich habe immer diesen Drang verspürt zu erzählen. Und es ist für mich ein Leichtes, die Kinder mit Erzählungen zu überzeugen. Mit der Erwachsenenliteratur ist es aber anders. Es hat nicht dieses persuasive Element.

Was ist die Erwachsenenliteratur dann?
Sie soll einen mit Fragen hinterlassen. Sie soll ein Spiegel sein. Die Leute sollen sich in diesem Buch erleben und sollen sich in Frage stellen, Aha-Momente erleben. Deswegen lese ich auch: um Konturen zu sehen, Beschaffenheiten der Materie zu erkennen, Ausdrücke für Zustände zu finden, die mir nicht greifbar waren, um nach Gefühlen greifen zu können - und um über meine Welt hinaus zu denken. Nicht, um mich bestätigt zu fühlen, sondern um mich über meine Grenzen hinauszubringen. Gute Literatur ist immer eine Herausforderung. Und es braucht immer Musse, um sie zu lesen.

Hast Du schon immer gern gelesen?
Ja. Das Schreiben ist eine natürliche Folge meiner Lesebegeisterung. Ich hatte nie wirklich die Ambition, Bücher zu schreiben. Ich habe angefangen ein Reisetagebuch zu verfassen und habe meinen Freunden daraus vorgelesen. Eine Passage erschien dann in einer Literaturzeitschrift, weil ein Freund mir eine Überraschung machen wollte. Ein Schriftsteller, den ich heiss verehrte, schrieb darauf hin, mit mir sei «ein leuchtender Stern am Firmament der Literatur» aufgegangen.

 

Mein Antrieb zu schreiben kommt vielfach vom Wunsch, über Geschehenes nachzudenken und Verpasstes einzuholen.

 

War das der Startschuss?
Ich war so überrascht, denn mir war nicht klar, dass das, was ich da geschrieben hatte, dem hohen Fach der Literatur zufiel. Klar war ich bemüht um den richtigen Ausdruck. Mein Antrieb zu schreiben kommt vielfach vom Wunsch, über Geschehenes nachzudenken und Verpasstes einzuholen. Ich bin kein sehr so spontaner Mensch, wie ich es mir wünschen würde. Oft verfolgen mich nachträglich Gespräche, und ich spinne sie weiter mit dem, was ich hätte sagen können und spinne sie immer noch weiter und weiter. Und so entsteht eine Geschichte.

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Wie schreibst Du?
Schreiben ist eine Komposition. Es muss ein Rhythmus und ein Leitmotiv haben. Alles fängt mit der Sprache an, mit dem richtigen Tonfall, es ist wie die Nacherzählung eines Traums. Man erinnert sich an ihn, will ihn greifen, aber im Moment, da man ihn erzählen will, löst er sich auf. Das Schreiben ist das Greifen nach ebendiesem Traum. Ein Kampf mit dem Flüchtigen.

Du weisst also nicht von Anfang an, wo Du hinwillst?
Ich glaube, ich habe eine Intuition vom Weg. Ich gehe von einem Bild aus und versuche dann, den sprachlichen Zugang zu finden.
Bei meinem ersten Roman, der im Donau-Delta spielt, der eigentlich eine lustige Geschichte über die Klaustrophobie ist, da bin ich vom Bild eines zugefrorenen Sees ausgegangen. Ich habe im botanischen Garten einen gesehen, in dessen Eisschicht Seerosen gefangen waren. Dieses Bild hat mich so bedrückt, dass ich versucht habe, es loszuwerden, in dem ich es aufschrieb. So erschienen auch die Figuren und plötzlich wurde alles auf eine tröstliche Art lustig.

Dein zweites Buch «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet. Du schickst darin deine Erzählerin nach Bukarest und lässt sie nach den Spuren ihrer Herkunft suchen. Wie sehr ist die Konfrontation mit Deiner persönlichen Geschichte Thema in diesem Buch?
Ich bin alles im Buch. Ich bin zwar nicht die Figur, habe auch nicht die genau gleiche Biografie der Figuren, aber ich bin da, in all meinen Büchern. Denn die Themen, die in diesen Büchern behandelt werden, sind ja die Themen, die mich, Dana Grigorcea, beschäftigen. Ansonsten hätte ich sie nicht aufgegriffen. Bei Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit habe ich zusätzlich ausprobiert, wie es sich anfühlt, mit den eigenen biografischen Daten zu spielen. Zum Beispiel wohnt die Hauptfigur im Buch im selben Bukarester Residenzquartier, in dem ich aufgewachsen bin, in der selben Strasse.

 

Die Erinnerungen eines Kindes sind viel entlarvender als die Erzählungen eines Erwachsenen, der alles anklagt. Ich wollte auch eine Stadt beschreiben, wie sie niemand zuvor beschrieben hatte.

 

Wie bist Du denn aufgewachsen?
Mein Urgrossvater war Bukarester Bürgermeister unter dem König. Als die Kommunisten kamen, wurde er entmachtet, blieb aber im Quartier. Das haben viele so gemacht. Es entstand eine ganz merkwürdige Nachbarschaft: Da waren Securitate-Agenten, also Leute vom kommunistischen Geheimdienst, neue Potentaten, aber auch viele Alteingesessene, denen es gelungen war zu bleiben. Beim Schreiben meines Romans habe ich auf meine Kindheit im Quartier zurückgegriffen. Die zentrale Frage war: Was nimmt ein Kind von den Zuständen wahr? Ein Kind, das sehr wohlbehütet aufwächst. Und: Kann man aus der Froschperspektive von einer Diktatur erzählen? Ich wollte keine Zeigefingerliteratur schreiben. Ich wollte nichts Schweres haben im Buch. Deswegen habe ich die Perspektive eines Kindes gewählt, das sich sicher fühlt, das aber viel mehr wahrnimmt als man auf den ersten Blick glaubt. Die Erinnerungen eines Kindes sind viel entlarvender als die Erzählungen eines Erwachsenen, der alles anklagt. Ich wollte auch eine Stadt beschreiben, wie sie niemand zuvor beschrieben hatte. Ich finde in der Literatur nur immer das kaputte Bukarest vor. Ich aber habe auch noch ein anderes Bukarest erlebt.

Das Bukarest Deiner Kindheit ist ein Schönes?
Die Frage ist: Was ist schön? Auch ein Kind spürt, dass es in Unfreiheit aufwächst. Dass das Leben der Erwachsenen voller Zwänge ist. Dass es sich auch unschuldig schuldig machen kann, in dem es sich verplappert. Man erfährt also im Buch von dieser düsteren Epoche. Ich habe aber einen Blick zurück, der nicht verbittert ist. Es ist meine Kindheit. Und in einer Familie, die einen liebt, wächst man meistens gut auf. Da hat man immer Momente von Freude, auch in schlimmen Zeiten.

 

Ich wünsche meinen Kindern, dass sie die Möglichkeit haben, zu erfahren, was es auf der Welt alles gibt- Dies aber nicht mit dem Zwang, etwas Bestimmtes zu erreichen. Einfach nur zu erfahren – um sich zu erfahren.

 

Wann gingst Du weg aus Bukarest?
Ich bin nie gegangen, denn ich habe nie eine Türe zugemacht. Ich habe an der Uni Bukarest Philologie, Germanistik und Niederlandistik studiert. Ab dem dritten Studienjahr habe ich ein Parallelstudium absolviert: Theater- und Filmregie in Brüssel. Dann habe ich dank eines Stipendiums ein zweites Masterstudium in Journalismus in Österreich gemacht. Ich war sehr ehrgeizig und immer, wenn es einen Wettbewerb gab, eine Prüfung, ein Stipendium, dann habe ich mich dem gestellt. Dann wollte ich sehen, wie gut ich bin.

Was wolltest Du erreichen?
Ich habe trotz allem nie mit einem Ziel studiert. Ich habe also nie bloss deswegen studiert, um später in dem oder jenem Berufsfeld aufzusteigen. Das wünsche ich mir auch für meine Kinder: Dass sie die Möglichkeit haben, zu erfahren, was es auf der Welt alles gibt. Dies aber nicht mit dem Zwang etwas Bestimmtes zu erreichen. Einfach nur zu erfahren – um sich zu erfahren.

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Sowohl Du als auch Dein Mann schreiben. Funktioniert das? Oder seid Ihr Eure grössten Kritiker?
Die Literatur hebt den Konkurrenzkampf auf. Hätte ich nur den Erfolg gewollt, hätte ich ihn woanders gesucht. An einem Ort, an dem er viel grösser gefeiert wird. Dass wir beide schreiben, ist eine Gnade. Wir können einander lesen und uns gegenseitig Feedback geben. Perikles ist eine sehr integrative Person. Er hat mit zwei Schriftstellerfreunden Treffen organisiert, an denen sich Autoren aus Manuskripten vorlesen und diese miteinander besprechen. Aus diesem Geist raus, wünsche ich mir anderen Autoren zu begegnen. Alles andere wäre pathetisch.

Schreibst Du auf Deutsch?
Ja. Einzig die Reisetagebucheinträge schrieb ich auf Rumänisch. Ansonsten schreibe ich auf Deutsch. Es ist eine gute Übung. Es zügelt mich. Zudem brauche ich ein Korsett und eine gewisse Aufmerksamkeit während des Schreibens. Genau diese habe ich, wenn ich in einer anderen Sprache schreibe. Auch, um überhaupt die Geschichte zu zwingen, in eine Form zu kommen. Ich brauche die deutsche Sprache, könnte aber auch auf Rumänisch schreiben.

 

Am Ende hat jede Sprache ihre Temperatur –  wie auch jede Geschichte. Die Frage ist: Welche Zutaten mischt man, um am Ende das gewollte Ergebnis zu erzielen?

 

Kämen dabei andere Roman raus?
Vielleicht würde ich andere Bücher schreiben, ja. Gerade beim zweiten Buch, das sich ja um Rumänien dreht, hätte ich vielleicht Skrupel gehabt, hätte ich auf Rumänisch geschrieben. Deutsch hat mir die nötige Distanz gegeben. Zum Ort, zu den Figuren, zu der Zeit. Es hat alles klarer gezeichnet. Die rumänische Sprache hat sich auch gewandelt in der Diktatur. Es gibt bestimmte Worte und Begriffe, die heute einen anderen Hallraum haben. Ich hätte eine andere Herangehensweise zur Geschichte haben müssen, um dasselbe zu sagen. Am Ende hat jede Sprache ihre Temperatur –  wie auch jede Geschichte. Die Frage ist: Welche Zutaten mischt man, um am Ende das gewollte Ergebnis zu erzielen?

Sprichst Du mit Deinen Kinder Rumänisch?
Nur. Und sie sprechen auch Rumänisch mit mir. Es ist mir sehr wichtig, ihnen das mit auf den Weg zu geben, denn durch Sprache tut sich uns eine riesige Welt auf. Das Lustige ist aber, dass meine Kinder ein antiquiertes Rumänisch sprechen.

Wieso das?
Wenn sie in Rumänien sind, tönen sie wie aus der Zwischenkriegszeit rüber teleportiert. Das hat mir einen Spiegel vorgehalten. Denn ich habe realisiert, dass ich mit meinen Freunden in der Sprache unserer Grosseltern spreche. Man redet jetzt anders, schneller, ungeduldiger, man zerbeisst die Worte, alles im Fernsehen ist Breaking News, Enthüllung, Vertuschung. Doch in Kreisen, in denen man liest - und das sind mittlerweile sehr kleine Kreise -, greift man auf einen älteren Sprachumgang zurück, auf die Sprache der Zwischenkriegszeit, die sich übrigens auch breit in der neuen Literatur niederschlägt. Und auch die meisten Märchen, die es auf Rumänisch gibt, sind in dieser antiquierten Sprache. Dass aber die Kinder dann tatsächlich auch so zu sprechen beginnen, und das überall, auf der Strasse und auf dem Kinderspielplatz, lässt viele schmunzeln.

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Glaubst Du, dass Du anders schreibst, weil Du Mutter bist?
Neben der Literatur erzieht auch die Mutterschaft zur Empathie. Ich bin aufmerksamer. Auch mit Kindern. Und zwar nicht nur mit meinen Kindern, sondern mit allen Kindern. Ich liebe alle Kinder, mich bewegt ihr Schicksal. Ich kann mir zum Beispiel keine Tatorte mehr anschauen, in denen Kinder umkommen. Das finde ich unnötig. Trotzdem habe ich meinen Mutteralltag in meinen Büchern noch nicht thematisiert.

Was bist Du für eine Mutter?
Ich bin eine Mutter, die sehr viel mit ihren Kindern spricht. Und der die Kinder auch viel erzählen. Vielleicht bin ich auch eine Helikoptermutter. Ich bin im Elternrat. Und wenn die Lehrerin meiner Tochter fragt: «Wer geht mit mir und den Kindern ins Theater?», dann begleite ich sie sofort und ich bin auch diejenige, die mit der Chindsgi-Gruppe meines Sohnes in den Wald geht.

 

Die Mutterschaft bringt mich dazu, alles zu hinterfragen. Auch gesellschaftliche Ordnungen.

 

Wolltest Du schon immer Mutter sein?
Ich habe mich mit diesem Gedanken eigentlich nicht so beschäftigt. Ich bin auch nicht in einer kinderfreundlichen Gesellschaft aufgewachsen. Die Kinder hatten ihr Zimmer – man hat im Haus meiner Eltern sonst aber keine Spuren von einem Kind gesehen. Ein Kind hat die Erwachsenen nie unterbrochen, hat bei Tisch nie geredet. Ich wurde nicht streng erzogen, aber das hat man einfach nicht gemacht. In den Städten waren die Familien auch nicht kinderreich. Wenn die Leute Kinder hatten, dann hatten sie eines. Man ist recht einsam aufgewachsen.

Du machst es jetzt anders.
Die Mutterschaft bringt mich dazu, alles zu hinterfragen. Auch gesellschaftliche Ordnungen. Wie ist es richtig? Wie ist es sinnvoll? Aus diesen Gedanken entsteht auch meine Angst vor den Kindern bei den Lesungen. Erzähle ich ihnen wirklich etwas Wesentliches? Ist es wirklich die Geschichte, die ich erzählen muss? Diese Fragen stelle ich mir auch in der Erziehung. Mache ist es richtig? Wie viele Freiheiten müssen die Kinder haben?

Wie organisiert Ihr Euch bei der Kinderbetreuung?
Ich schreibe, wenn sie weg sind. Jetzt, wenn sie im Kindergarten und der Schule sind, früher, als sie in der Krippe waren. Natürlich aber nicht jeden Tag. Denn der Künstlerberuf ist ein Luxus, den ich mir erstmal gönnen können muss. Habe ich eines der Kinder irgendwohin zu begleiten oder ist es krank oder hat es frei oder Ferien, komme ich nicht zum Schreiben. Ich bin viel mit den Kindern. Ich kann sie nicht viel fremdbetreuen lassen. Und ich will das auch nicht.

Trotzdem gingen sie in die Krippe.
Am Anfang, als ich Maria in die Krippe gebracht habe, habe ich mich oft gefragt, was ich in der Zeit verpasse. Aber ich befürworte die Fremdbetreuung durch die Krippe. Sie ist sehr wichtig, weil die Kinder hier regelmässig Kontakt haben zu anderen Kindern. Das ist ein Kontakt, den man ihnen so zuhause nicht bieten kann. Sie lernen mit uns nicht, wie man sich in einer Gruppe Gleichaltriger bewegt. Die Krippe haben wir primär aus dieser Überlegung gewählt – wir haben die Kinder nicht da geparkt, um Karriere zu machen, sondern haben entschieden, dass es gut ist für sie, wenn sie in die Krippe gehen.

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Du bist Deinen Kindern also sehr nahe?
Als Maria klein war, war ich noch Leiterin der Vertiefung Film und Fernsehen an der technischen Hochschule in Chur. Da bin ich gependelt. Am Anfang habe ich Maria mitgenommen, weil ich sie gestillt habe und sie keinen Schoppen wollte. Die Kinder waren klar meine Priorität. Es gilt nicht als emanzipiert, das zu sagen. Aber bei mir war es so.

Eine Frage, die man sich nur als Frau stellt?
Genau. Als Mann hast du meistens eine Frau, die sich im Hintergrund um die Familie kümmert. Das umgekehrte System ist nicht so häufig. Kommt dazu, dass die Frau immer noch weniger verdient als der Mann. Das habe ich am eigenen Leib erfahren.

Du warst mit Maria auch schon auf Lesereise. Ging das gut?
Maria hatte Sommerferien und ich hatte eine Lesereise angeboten bekommen durch eine sehr malerische norddeutsche Gegend – eine schöne Kombination, dachte ich. Also habe ich Maria mit nach Schleswig-Holstein genommen. Wir sind gemeinsam durch Deutschland gefahren, mit uns ein riesiges Gepäckstück voller Bücher für Maria. Wir sassen also oft stundenlang kuschelnd im Zugabteil, haben Geschichten gelesen und aus dem Fenster geschaut. Es war ein schönes Abenteuer. Tagsüber habe ich Kinderprogramm gemacht, Abends habe ich gelesen. Das ging meistens gut.

Meistens?
Ich habe mit den Literaturhäusern im Voraus vereinbart, dass sie eine Betreuung organisieren. In den grösseren Häusern war das auch möglich, da gab es Praktikantinnen, die mit Maria gelesen und gebastelt haben. An einem Ort war es aber nicht möglich, da wollte sich niemand um Maria kümmern, weil alle zur Lesung wollten. Da habe ich ihr gesagt, dass sie einfach zeichnen müsse, bis ich fertig sei.

Das tönt, als hätte es nicht geklappt.
Sie war sechs Jahre alt. Mitten in der Lesung kam sie rein und sagte: «Mama ich will nicht alleine sein.» Also habe ich ihr gesagt, sie solle sich in den Raum setzen, in dem die Lesung stattfand und da weitermalen. Kurze Zeit später fragt sie plötzlich: «Hast Du einen Spitzer?» Ich habe ihr gesagt, dass ich jetzt nicht könne. Sie wollte nicht hören. Ich habe gemerkt, es eskaliert, also habe ich während des Lesens gespitzt. Situation gerettet, bis zum nächsten. «Mama, da gibt es ein Trampolin im Hof, darf ich hin? Du siehst mich vom Fenster.» Kurze Zeit später: «Mama, ich habe nasse Socken.» Ich: «Zieh sie aus!» Sie: «Nein, Du!» Irgendwann hatte ich vor lauter Anspannung keine Stimme mehr.

Wie haben die Leute reagiert?
Am Schluss der Lesung kamen die Zuhörer nach vorne und haben Maria gesagt: «Oh du hast es aber gut mit einer Mama, die Schriftstellerin ist. Die liest Dir sicher viel vor.» Und dann sagt mein Kind tatsächlich: «Meine Mama liest mir nie was vor. Meine Mama schaut nur auf ihr Handy.» Sie war total beleidigt, dass ich an dieser Lesung war und das musste wohl raus. Zudem war ich an dem Nachmittag, als wir den Weg zum Literaturhaus gesucht hatten, tatsächlich mit dem Handy in der Hand unterwegs gewesen, eben mit Maps. Mein Publikum war entrüstet: Was für eine schlechte Person, macht auf Literatin und liest ihrem Kind nichts vor. Wenn sie nicht schreibt und vor Leuten auftritt, schaut sie nur auf ihr Handy! Das stimmte überhaupt nicht, aber mir hätte niemand geglaubt. An dem Abend war ich Maria böse. Aber nur an dem Abend, ansonsten hatten wir es sowas von schön miteinander.

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Unsere Welt und somit diejenige unserer Kinder wird immer digitalisierter. Wird das Buch überleben?
Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten total verändert. Nur schon die ganze Haptik der Dinge. In meiner Kindheit in Rumänien war das Buch auch als Objekt noch sehr wichtig. Man respektierte es, las es mit sauberen Händen, knickte keine Seiten. Die Hirnforschung hat herausgefunden, dass in unserem Gehirn unglaublich viel passiert, wenn wir ein Buch auf Papier lesen. Wenn wir es hingegen auf einem Tablet lesen, passiert viel weniger. Das Buch aus Papier wird überleben, denn es ist Therapie.

Betreuungssituation:
Dana schreibt, wenn ihre Kinder im Kindergarten respektive in der Schule sind.