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Tadah

Regula Humm: Eine Künstlerin und Mutter übers Gestern & Jetzt.

Regula Humm ist 88 und hat ihr Leben lang Kunst erschaffen. In den 50ern kam ihr erstes Kind zur Welt. Drei weitere folgten. Mit uns spricht sie nicht nur über ihre Kunst, sondern vor allem auch über die Kunst, Familie und Job unter einen Hut zu bringen. Damals. Und heute.

Bilder von Vanessa Bachmann / Lilalou Photography

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Regula Humm ist Künstlerin und malt mit 88 Jahren noch immer jeden Tag in ihrem Atelier. Sie lebt mit ihrem Mann Ambrosius (93), der ebenfalls Künstler ist, in Wädenswil.
Künstlerinnen-Kollektiv

Tadah: In der Kunst verarbeitet man alle Freuden und Ängste des eigenen Daseins, sagt man. Welches sind denn die Deinen?
Ganz klar: die Kunst selbst. Ich bin so aufgewachsen, dass man immer irgendetwas macht. Aber natürlich auch, dass die Familie sehr wichtig ist. Und genau da begann mein Zwiespalt: Eine Familie wollte ich eigentlich nie haben. Trotzdem hat es sich so ergeben. Und als die Kinder da waren, da wollte und musste ich natürlich auch die Verantwortung für sie übernehmen. Damit einher ging der Haushalt – etwas, was ich allerdings auf keinen Fall tun wollte.

 

Ich habe mich auch nie als treusorgende Mutter gesehen.

 

Mutter bist du trotzdem geworden. Und Eure Kinder sind in diesem grossen Haus aufgewachsen. Da muss ganz schön viel gewischt und geputzt werden.
Ich habe im Landdienst gelernt, wie man die Küche und den Boden wischt. Und das machte ich auch. Aber das Hauswirtschaften als Mittelpunkt meines Lebens zu sehen, gar als das, was meine Tage füllen sollte, jässes nein. Ich habe mich auch nie als treusorgende Mutter gesehen.

Dieses Haus haben wir von meinen Eltern übernommen. Und als meine Mutter später zu Besuch kam, meinte sie dann schon mal: «Die Fensterkneife, die habe ich zusammen mit den Haushaltshilfen aber immer poliert, gell.»

Du bist also hier aufgewachsen und nie weg?
Aber natürlich bin ich weg. Zuerst bin ich in die Stadt Zürich. Ich konnte ein Zimmer im Zürcher Oberdorf, an der Schlossergasse mieten. Dort konnte ich für fast kein Geld wohnen.

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Wie ging es weiter?
Dann hatte ich ein Atelier am Waffenplatz. Ganz oben war das Bauernhaus von Fräulein Landolt. Ich bin also mitten in der Stadt vom Läuten der Kuhglocken erwacht. Zu meinem Glück hatte es dort auch einen grossen Raum, in dem ich werken konnte.

Kanntest Du da Ambrosius schon?
Ja, aber zusammengewohnt haben wir nicht. Das war damals verboten, als unverheiratetes Paar.

Ihr habt also geheiratet?
Wir sind gemeinsam nach Deutschland. Ambrosius war Kulturschaffender und wollte ans Theater. In der Schweiz hatte es damals genau ein einziges Theater, das Schauspielhaus, das eine interessante Anstellung hätte bieten können. Also gingen wir nach Nürnberg ans staatliche Theater, dessen Intendant Ambrosius als Bühnenbildner engagiert hat.

 

Dieser Krieg, der Sog dieses Krieges, der geht ja bis heute, es ist grauenhaft.

 

Das war kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Man kann sich das nicht vorstellen, aber dieser Krieg, also der Sog dieses Krieges, den spürten wir natürlich damals extrem. Eigentlich merkt man ihn bis heute, es ist grauenhaft.

Seid Ihr deswegen wieder in die Schweiz gekommen?
Wir blieben sechs Jahre. Dann hatte Ambrosius genug von der Stadt, vom Nachkriegsdeutschland und überhaupt von allem. Wir kamen zurück in die Schweiz – ohne Engagement, mit zwei Kindern. Aber irgendwie ging es immer. Ambrosius arbeitete dann am heutigen Neumarkt-Theater, das mein Bruder leitete.

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Dein Bruder war auch Kulturschaffender? Eine Künstlerfamilie durch und durch also?
Jein. Mein Vater war Sekundarlehrer und Bauernjunge. Mein Mutter war ausgebildete Klavierlehrerin. Aber sie konnte ihren Beruf nie ausüben. Dafür hätte man damals sehr emanzipiert sein müssen.

 

Ich war mir immer sicher, dass ich nicht auf der Welt wäre, wäre mein Bruder nicht gestorben.

 

Wie viele Kinder wart Ihr denn?
Bei dieser Frage zögere ich jeweils. Wir waren vier und trotzdem nur drei. Das erste Kind meiner Eltern starb mit zwei Jahren. Bis meine Schwester zur Welt kam, ging es ziemlich lang. Darauf folgten dann mein Bruder und später ich. Ich war mir immer sicher, dass ich nicht auf der Welt wäre, wäre mein Bruder nicht gestorben. Dies ist auch der Grund, warum ich selbst dann doch vier Kinder habe.

Wieso?
Ich kann das nicht erklären, es ist total absurd. Aber das war so in mir drin. Dieses erste Kind hat meinen Eltern immer gefehlt. Und es hat auch uns Geschwistern gefehlt. Ich ging oft mit dem Bäbiwagen zum Friedhof rauf zu seinem Gräbli. Dieser Bruder und sein Tod, das hat mich immer beschäftigt.

Vier eigene Kinder also. 1954 das erste. Und es hat Dein Leben komplett verändert. Wie bist Du in diese Dir nicht vorgesehene Rolle reingekommen?
Meine Mutter sagte immer, mit einem Kind bekommst du einen zweiten Haushalt. Da wurde ich schier ohnmächtig. Meine Schwiegermutter gab mir ein Körbchen voller Flickfächtli, um Socken zu flicken und ich dachte: Um Gottes Willen, das auch noch? Ich hatte damals schon grosse Aufträge, die mich sehr beschäftigten. Und mit dem Kind war das dann fertig. Aufs Mal.

 

Damals war das halt klar, dass ich die Kunst, wenn überhaupt, dann irgendwie neben dem Kind machen muss.

 

Du musstest also eine Zwangspause einlegen. Warst du manchmal eifersüchtig auf Deinen Mann? Weil er weitermachen konnte mit dem künstlerischen Schaffen?
Ja. Das hat mich schon zurückgeworfen. Und wenn ich ehrlich bin, war ich auch etwas eifersüchtig. Ich denke, ein Mann kann sich das nicht so vorstellen. Damals war das halt klar, dass ich die Kunst, wenn überhaupt, dann irgendwie neben dem Kind machen musste.

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Wie bringt man denn eine sechsköpfige Familie mit Kunst durch?
Lacht. Das weiss ich auch nicht. Aber es ging immer. Wir hatten das Glück, günstige aber schöne Wohnungen zu haben. Heute würde jedoch niemand so wohnen wollen – mit Kohlenheizung, ohne warmes fliessendes Wasser oder in einem Abbruchhaus. Damals in Zürich hatten wir zwei Wohnungen zusammen für 370 Franken. Ein Zimmer hatten wir sogar noch untervermietet.

Hattest Du nie Ängste wegen des Geldes.
Doch. Es gab schon diese Monate, in denen wir schon am 20. kein Geld mehr hatten. Und auch zu den Zeiten, in denen Ambrosius einen Fixlohn hatte, war dieser verschwindend klein. Aber wie gesagt: Irgendwie ging es immer.

Wann hast Du wieder begonnen zu arbeiten?
In Nürnberg konnte ich nicht arbeiten. Ich musste heizen, abwaschen, kochen. Und ich hatte niemanden für die Kinder. Die Männer haben damals ja nicht wahnsinnig viel mitgeholfen daheim. Ambrosius hat viel gearbeitet – das Theater nimmt einen sehr in Anspruch – daneben hat er seine Malerei gepflegt.

 

Es war die Zeit in der die Erwachsenenbildung für die Frau aufgebaut wurde. Denn diese hatten wieder Zeit. Es gab ja neu einige Küchenmaschinen, die ihnen viel Arbeit abnahmen.

 

Als wir zurückkamen, 1960, habe ich in der Migros Stoffdruck unterrichtet – mit Linol. Dann wurde ich von anderen Schulen angefragt. Es war die Zeit in der die Erwachsenenbildung für die Frau aufgebaut wurde. Denn diese hatten wieder Zeit. Es gab ja neu einige Küchenmaschinen, die ihnen viel Arbeit abnahmen.

Und wann nahmst Du wieder einen Pinsel in die Hand?
1960 hab ich wieder angefangen zu malen. Da war mein drittes Kind, Severin, gerade geboren. Aber ich hatte Hilfe, ich hatte jemanden für zwei Stunden die Woche angestellt – eine ehemalige Hebamme.

Künstler entwickeln sich, adaptieren ihren Stil. Gibt es einen Vor-Mutter-Stil und einen Nach-Mutter-Stil?
Das kann ich nicht sagen. Ich fange sowieso bei jedem Werk wieder neu an. Ich beginne immer sehr intuitiv zu arbeiten und tue dies auch nicht in einem einzigen Stil. Manchmal mache ich heute wieder lineare Zeichnungen – sowas habe ich schon vor 50 Jahren gemacht. Ich weiss noch, dass man uns an der Kunsti sagte: Zeichnet nur abstrakt. Keine Figuren. Nicht malen. Das habe ich dann grad z'leid gemacht.

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Du hast damals Deine eigenen beruflichen Bedürfnisse zurückgesteckt. Wenn Du nun unsere Generation Mütter anschaust und siehst, wie wir uns aufspalten zwischen Job und Familie, was denkst Du?
Ich habe damals einfach versucht, das Ganze positiv zu sehen. Sonst geht’s ja auch nicht. In Nürnberg auf dem Land lebten wir in einem kleinem Zwei-Zimmer-Haus. Das Wasser war immer gefroren, die Winter waren eiskalt. Ich habe mit den Kindern gespielt, geheizt, gekocht, gespielt, geschwatzt. Ich wollte einfach das Beste draus machen.

 

Es hat alles seinen Preis.

 

Schau, es hat alles seinen Preis. Ich hatte oft den Koller, aber ich habe ihm keinen Platz gelassen. Es nützte ja nichts. Ich bin mir aber sicher: Heutzutage würde ich auch arbeiten.

Du bist im Lyceum auch mit jüngeren Künstlerinnen vernetzt. Wie leben sie das Künstlerinnen- und Muttersein?
Die meisten haben Kinder. Sie sagen: Wichtig ist, dass man immer regelmässig seine Stunde im Atelier hat. Diesen Luxus hatte ich nie. Wie auch? Hand aufs Herz: Bei vier Kindern ist immer eins krank. Und wenn Ambrosius daheim war, war ich gestört, weil ich selbst keinen Platz hatte. Ich hatte ja nie ein Atelier, sondern nur ein Zimmer, durch das alle hindurchliefen.

 

Heute würde ich mehr auf mich schauen.

 

Heute würde ich mehr auf mich schauen. Aber das war damals schlicht nicht möglich. Das Theater ist etwas Auffressendes. Mal hatte Ambrosius viel, mal keine Zeit. Am Neumarkt hatten sie zum Teil die Nacht durchgearbeitet. Ich wusste nie, wann er heimkommt. Manchmal um 14 Uhr, manchmal um 17 Uhr – entweder hatte ich gekocht und es wurde kalt, oder ich hatte noch nicht gekocht, und er war schon da.

Zieht sich die Kunst durch die ganze Familie Humm?
Unser Sohn, Tobias, ist definitiv ein Künstler. Er ist Töpfer. Vieles davon steht auch bei uns daheim. Micha, unsere Erste, hat Deutsch studiert und wurde dann Deutsch-Lehrerin. Severin wollte zuerst einmal einen rechten Beruf lernen. Er hat bei uns gesehen, dass es nicht immer einfach ist, als Künstler. Imanuel, unser Vierter ist Schauspieler. Er ist also auch künstlerisch tätig, wenn auch mehr mit dem Mund, als mit den Fingern.

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Kann Kunst helfen, loszulassen? Frei zu sein?
Das Bild muss werden. Das Thema, das ich habe, muss mich loslassen und ins Bild fliessen. Zum Beispiel dieses Bild, an dem ich gerade sitze. Das hatte ich schon ausgestellt. Als ich es dann in der Ausstellung hängen sah, hat es mich geärgert. Es stimmte noch nicht. Ich nahm es also mit nach Hause und fing wieder an, daran zu arbeiten. Das Bild wollte etwas anderes, als ich wollte.

 

Ich frage mich: Habe ich meine Kinder überhaupt erzogen?

 

Ist man als Künstlerfamilie liberaler? Freier? Unautoritärer?
Ich habe meine Kinder schon machen lassen. Ich weiss nicht, habe ich sie überhaupt erzogen?

Was wollte man früher mit Kunst bezwecken und was heute?
Heute muss es in erster Linie originell sein, etwas, was man noch nicht kennt. Früher hat man Werke verglichen mit dem, was man schon kannte. Es galten andere Prinzipien.

Und was war früher anders am Muttersein?
Ich hatte eine sehr vielseitige und begeisterungsfähige Mutter. Sie hat zwar nie mit uns gespielt, Fakt war aber: Wir hatten es gut. Es war auch immer jemand da. Meine Mutter war meistens guter Laune. Ob das heutzutage in den Familien auch so ist, kann ich nicht beurteilen und auch nicht werten.

 

Frauen sind jemand!

 

Findest Du, dass das Frauen- und Rollenbild sich zum Positiven verändert hat?
Absolut. Weil Frauen jemand sind. Als der Film «Die göttliche Ordnung» in die Kinos kam, sagten mir meine Schwiegertöchter, ich müsse den unbedingt sehen. Aber wozu? Ich hatte genug gesehen – ich hab's selbst erlebt. Ich durfte ja nicht mal unterschreiben, um das Haus meiner Eltern auf mich zu überschreiben. Wir waren «nur» Frauen. Unsere Männer mussten für uns unterschreiben. Das war absurd. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen.

Was sollte die «moderne» Frau besser wieder ablegen?
Eine penetrante Selbstverwirklichung unter dem Opfer der Kinder finde ich schade. Das meine ich nicht böse und viele müssen ja auch arbeiten gehen – das ist auch gut so. Aber, wie bereits erwähnt: Es hat alles seinen Preis. Und das scheinen viele nicht sehen zu wollen.

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Du schaffst etwas, das Dich überdauert. Ist das ein schöner Gedanke?
Ich weiss, dass viele Künstler, ganz besonders Männer, das brauchen. Ich fänd es schon schön, wenn diese Sachen bleiben würden. Denn es sind auf eine Art auch ein wenig meine Kinder. Ich habe eine gewisse Arroganz, dass ich meine, ich mache etwas besser und schöner. Ein Schauspieler sagt: Mein Werk bleibt nicht. Da hat man auch keinen Ballast zum Rumschleiken. Aber wir haben diesen Ballast. Was macht man denn damit anderes als horten, verkaufen, weitergeben, ausstellen?

Ihr habt Euer Haus, dieses Museum.
Ja, wir haben es schön hier. Aber es ist auch schön zu hören, wie es den Kunstwerken ergeht, die nicht mehr hier sind. Ich bin immer berührt, wenn mir jemand schreibt, dass er sich immer wieder an meinen Bildern erfreue. Mal schrieb mir eine Frau aus Olten, sie habe diesen Wandbehang immer noch so gern. Das tut einem schon gut. Oder jemand, der mir ein Tuch abgekauft hat und mehr bezahlt hat, als ich verlangt habe.

Zu guter Letzt, liebe Regula: Was rätst Du uns Müttern von heute?
Wehrt Euch für die Arbeit, die ihr gern macht, vernachlässigt dabei aber Eure Familie, Eure Kinder nicht. Ich weiss, dieses Thema ist so schwierig. Aber ganz gleich, wie ich es gemacht oder eben nicht gemacht habe - und hier kommt wieder meine Arroganz zum Tragen - mein Leben ist für mich ein Gesamtkunstwerk.